Geschichte zu Papierschnitzeln

■ Oldenburger Gesundheitsamt vernichtete bis 1995 eifrig NS-Akten über Zwangssterilisierungen

Gerd D. galt als glücklicher Mann, obwohl er taubstumm war. Der Oldenburger Tischlergeselle zog zwei „gesunde und kräftige Kinder“groß und war stolz darauf, seine Familie ohne staatliche Hilfe ernähren zu können. Doch dann kamen die Nazis – und mit ihnen die Demütigungen, Vorladungen, Zwangsuntersuchungen. Gerd D. sei „mit negativem Erbgut belastet“, urteilte im Juni 1934 der Amtsarzt und stellte beim Erbgesundheitsgericht den „Antrag auf Unfruchtbarmachung“. Sechs Monate später kam Gerd D. unters Messer. Insgesamt wurden allein im Jahr 1934 im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg 2.399 Menschen sterilisiert. Ein Jahr später waren es bereits doppelt soviele.

Obwohl Gesundheitsbehörden und Ärzte in der NS-Zeit ihre Pseudo-Diagnosen und Operationstermine akribisch notiert hatten, ist es heute kaum noch möglich, diese Geschichte aufzuarbeiten, wie es der Oldenburger Historiker Ingo Harms für seine Dissertation tun wollte. Denn das Gros der Dokumente ist vernichtet worden. Nach und nach, bis in die neunziger Jahre hinein, fiel das brisante Material dem Reißwolf des Oldenburger Gesundheitsamtes zum Opfer. Behörden-Mitarbeiter vermuten, daß das Gesundheitsamt auf höhere Weisung handelte.

Lediglich 21 Medizinalakten liegen im Oldenburger Archiv vor, nur noch vereinzelt befinden sich „Erbgesundheitsberichtsakten“irgendwo zwischen den 100.000 amtsärztlichen Untersuchungsdokumenten – und das auch nur, weil die Betroffenen noch am Leben sind. Aber zumindest die letzte große Akten-Vernichtungsaktion vom Februar 1995 könnte nun Folgen haben: Das Gesundheitsamt hat vermutlich rechtswidrig gehandelt, als es die Geschichte der Euthanasie in Oldenburg zu Papierschnitzeln verarbeitete. „Wegen Platzmangel“, wie Oberbürgermeister Jürgen Poeschel jetzt dem Rat auf eine Anfrage der Fraktionen von PDS und Oldenburger Linker Liste (Olli) mitteilte. Die 1995 vernichteten Akten seien damals weder einem Archiv angeboten „noch auf ihre Archivwürdigkeit hin überprüft worden“. Ein niedersächsisches Landesgesetz von 1993 schreibt zwar zwingend vor, daß staatliche Akten erst den zuständigen Archiven vorgelegt werden müssen.

Dennoch glaubt Sozialdezernentin Maria Niggemann nicht, daß sich das Gesundheitsamt, das bis 1998 eine staatliche und keine kommunale Behörde war – strafbar gemacht habe. Dabei hat das Amt offenbar auch gegen verwaltungsinterne Vorschriften verstoßen. Denn die Stadt Oldenburg hatte sich 1973 noch selbst eine Aktenordnung gegeben, wonach historisch relevante Akten vor der Vernichtung von Archivaren begutachtet werden müssen. OB Poeschel begründet die Reißwolf-Aktion von 1995 mit dem „Ablauf der Aufbewahrungsfrist, die laut Aktenordnung 20 Jahre beträgt“. Die Pflicht zur Vorlage im Archiv wird dadurch aber nach Ansicht der Archivare nicht aufgehoben. Ersmals ruchbar wurde die Aktenvernichtung durch Recherchen des Historikers Harms. Der hatte 1994 festgestellt, daß Unterlagen, die wenige Jahre zuvor laut Auskunft des Gesundheitsamtes noch verfügbar gewesen sein sollen, plötzlich verschwunden waren. Er erwähnte die Sache in einer Fußnote und löste so weitere Untersuchungen des niedersächsischen Staatsarchivs in Oldenburg aus.

Das Staatsarchiv hat inzwischen seine oberste Dienststelle – die Staatskanzlei in Hannover – über die zweifelhafte Geschichtsverarbeitung informiert und einen Aktenvermerk angefertigt. Das erregt die Gemüter in Verwaltung und Lokalpolitik. Denn Archiv-Leiter Albrecht Eckhard will den Inhalt des Vermerks nicht bekanntmachen. Es handele sich um einen „behördeninternen Vorgang“. Das wurmt die Stadt ganz besonders. Zumal Verwaltung und Gesundheitsamt, wie ein Behörden-Mitarbeiter mutmaßt, „genau wissen, daß sie in dieser Sache enormen Dreck am Stecken haben“.

Denn die Medizinalakten seien, so habe er über Umwege aus dem Gesundheitsamt erfahren, auf „Anweisung der Gesundheitsamts-Leitung“bewußt vernichtet worden. Und die habe sich auf einen Befehl „von weiter oben“berufen. „Oh Gott, da sind ja noch die Fotos der Opfer drin“, sollen die mit der Vernichtung beauftragten Beamten noch gemeldet haben, bevor der Reißwolf ratterte. Aus der Chefetage des Gesundheitsamtes war keine Stellungnahme zu erhalten. Die Pressestelle und die Sozialdezernentin verwiesen auf die Stellungnahme des OB, obwohl der mit keinem Wort auf rechtliche Konsequenzen einging. Jens Breder