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Hinter dem Fachwerk toben ungeahnte Leidenschaften (echt wahr) Von Susanne Fischer

Das prominenteste Vorurteil, das Städter über das Landleben hegen, lautet, es gehe in der Provinz ruhig und beschaulich zu. Das stimmt tatsächlich, solange keine Städter zu Besuch kommen und nur ein gleichmäßiges Traktorrumpeln den Lebensrhythmus bestimmt.

Ein anderes Lieblingsvorurteil der Metropolenbewohner besagt, daß hinter der beschaulichen Dorffassade ungeahnte Leidenschaften toben, während allerlei kriminelle Machenschaften unter den Stubenteppich gekehrt werden. Kein Film und kein Kriminalroman, in dem nicht unsere heimlichen Freizeitbeschäftigungen vom Inzest über Omamord bis Kälbchenschändung ausgiebig gewürdigt werden. Das stimmt natürlich alles überhaupt nicht, und den letzten, der das in meiner Gegenwart behauptet hat, habe ich mit einer Axt im Rücken unter den Misthaufen geschaufelt, nachdem ich ihn mit dem Traktor geschändet hatte. Auch herrscht auf dem Dorf noch ein tüchtiger Zusammenhalt, wie man in Stadt und Land weiß.

„Lange nicht gesehen!“ blaffen wir Provinzler uns mit schwerem Schulterklopfen beim Osterfeuer am Sonnabend an, damit uns vor Schreck die Bierflaschen aus der Hand fallen und wir neue kaufen können. „Lange nicht gesehen!“ kreischen wir entzückt auf dem Osterball am Sonntag unseresgleichen in die Ohren, während wir die wenigen Osterbesucher aus der Stadt mit scheelen Seitenblicken mustern. Natürlich haben wir nichts gegen Fremde, aber wer es nötig hat, in einer Gemeinde zu leben, die mehr als tausend EinwohnerInnen hat, mit dem kann ja wohl irgend was nicht stimmen. Womöglich braucht er die Anonymität als Schutzmäntelchen für seine kriminellen Aktivitäten und heimlichen Perversionen. „Lange nicht gesehen!“ brüllen wir uns montags beim Osterspaziergang über die frisch gepflügten Felder zu, so daß mehrere Lerchen erstaunt, ja schreckensstarr vom Himmel purzeln. Die braten wir abends gern am Lagerfeuer und murmeln heidnische Sprüche dazu, falls wir keine Städter erwischt haben. Irgendeinen Städter kriegt man Ostern aber immer. Städter: „Richtig schön haben Sie es hier!“ – Ländler: „Jo.“ – Städter: „Und so ruhig!“ – Ländler: „Jo.“ – Städter: „Gerade an Ostern!“ – Ländler (schnappt zu): „Jo.“ Dienstags beim Einkaufen begrüßen wir einander mit wissendem Blick. „Lange nicht gesehen!“ behaupten wir kühn. „Jo“, antworten wir ruhig und gepflegt. „Tiefkühltruhe voll?“ „Aber sicher. Habt Ihr Lust, mit ein paar ungeahnten Leidenschaften vorbeizukommen und uns in unseren kriminellen Machenschaften zu unterstützen?“ Und schon kommt das halbe Dorf auf Besuch und schwelgt in einer Orgie.

Auf dem Lande leben alle Generationen friedlich unter einem Dach zusammen. „Lange nicht gesehen?“ rufen sie sich über wohlgefüllten Tellern beim Orgien-Imbiß zu. Oma findet, daß die Städter früher nicht so zäh waren. Die machen jetzt immer zuviel Fitneßtraining. Aber Oma hütet sich, das laut zu sagen, denn die Schwiegertochter hat ihr bedeutet, man könne das Altenteil auch teuer an ahnungslose Wochenendurlauber vermieten, anstatt es kostenlos von der Schwiegermutter verwohnen zu lassen. Und für unseren Provinzlerkochtopf war noch kein Huhn zu alt, keine Gans zu faserig und keine Ziege zu mager.

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