Die Idee vom Miteinanderleben

In Wallmow in der Uckermark baut der Berliner Verein „Land in Sicht“ seit fünf Jahren an neuen Wegen, die psychisch kranke und sogenannte normale Menschen zusammenbringen sollen  ■ Von Anett Dietze

An einem klaren und kühlen Morgen wirkt die Uckermark fast unwirklich schön. Felder strecken sich, so weit das Auge reicht. Die reifbedeckten Zweige der Bäume an den Feldwegen glitzern in der Sonne. Aufgeplusterte Krähen beäugen mißmutig jeden Störenfried und flattern ein paar Flügelschläge hoch ins kahle Geäst. Ein kopfsteingepflasterter Weg führt zu einer Handvoll Häusern, die sich in die Landschaft ducken. „Wallmow, Ortsteil Wendtshof“ grüßt das gelbe Schild.

Für den Berliner Verein „Land in Sicht“ ist es der sechste Winter in Wendtshof. 1991, im Sommer, zogen die ersten Vereinsmitglieder auf den Gutshof, den sie von der Treuhand und der Gemeinde gekauft hatten, und krempelten die Ärmel hoch. Ein Ort sollte entstehen, an dem psychisch Kranke und „Normale“ miteinander leben und arbeiten können. Menschen, die Hilfe und Betreuung brauchen, und solche, die allein ganz gut klarkommen, aber sich nach einem sinnvollen Zusammenleben sehnen, Leute und Berlin und aus der Umgebung, Junge und Alte sollten auf dem Wendtshof ein Zuhause finden.

„Tja“, sinniert Hans Luger, „das euphorische Miteinander wurde durch die Realität etwas relativiert.“ Für den 46jährigen Vereinsvorsitzenden ist das die Essenz von fünf Jahren aufreibender Arbeit. Der Psychologe forcierte das Konzept „Miteinander leben und arbeiten“ von Beginn an, und er erfuhr am eigenen Leib die Grenzen dieses Konzepts. Als Betreuer lebten er und seine Freundin mit ihrer Tochter zwei Jahre Tür an Tür mit ihren Klienten, vier psychisch Kranken, die nach längerem Klinikaufenthalt auf den Wendtshof zogen. „Meine Lebensqualität hat sich damals dramatisch verschlechtert. Eine Trennung zwischen Dienst und Privatleben war praktisch nicht möglich, persönliche Grenzen waren nicht klar definiert. Das zerrte an den Nerven aller Beteiligten“, erinnert sich Luger. Anfang 1996 zog die Familie wieder nach Berlin.

Die frei gewordene Wohnung wird nun als Heimwohnung genutzt. Drei Frauen, die längere Zeit Patientinnen in Brandenburger psychiatrischen Kliniken waren, zogen ein. Und die Erfahrung der Anfangszeit wurde von den Betreuern, die Lugers Nachfolge antraten, kritisch umgesetzt: Sie leben nicht direkt auf dem Wendtshof, sondern im Dorf. „Wir können und wollen keine Zwangsgemeinschaft sein“, erklärt Hans Luger, „sondern ein soziales Feld schaffen, in dem Begegnungen möglich sind. Alle immer zusammen, das ist nicht machbar.“

Das kann Aristides Damdounis nur bestätigen. Er ist einer von vier BetreuerInnen, die für die sieben HeimbewohnerInnen da sind. „Wir machen Angebote, loten Schwierigkeiten aus und helfen bei der Bewältigung von Konflikten. Wir organisieren keinem die 24 Stunden des Tages, es geht uns ja gerade um die Motivation zur Selbständigkeit“, erklärt der Psychologe, der seit anderthalb Jahren im Projekt arbeitet. Die Klienten sollen nach ihrem Leben in der Klinik wieder lernen, sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu verlassen und ein selbständiges Leben zu führen. Einkaufen, kochen, Fahrten nach Berlin oder nach Polen, Arbeiten in der Abteilung Landschaftsgestaltung oder der Biogärtnerei des Projekts gehören dazu. Spannungen sollen vor Ort, persönlichkeitsbezogen, gelöst werden.

Wir wollen keine Zwangsgemeinschaft sein

Diese Herangehensweise macht die Zusammenarbeit mit den hiesigen Psychiatern nicht gerade einfach. Der Ansatz steht konträr zur schulmedizinischen Psychiatrie, die in Prenzlau und Eberswalde fast ausschließlich praktiziert wurde. Akzeptanz mußte sich langsam und mühselig erarbeitet werden. „Noch heute bekommen wir ganz überraschend Besuche von der Amtsärztin und dem Sozialpädagogischen Dienst“, bemerkt Damdounis ironisch, „und die haben natürlich eindeutig 'ne Kontrollfunktion. Wir vertreten trotz allem vor den Ämtern offensiv unsere Position: Das hier ist eine Einrichtung, in der Leute kontinuierlich betreut werden, aber eigenverantwortlich leben.“

Mittlerweile hat sich „Land in Sicht“ einen festen Platz in der psychosozialen Betreuungslandschaft Brandenburgs erstritten. Und der Verein hat expandiert – in das nahe gelegene Prenzlau. Dort wurde mit MitarbeiterInnen aus der Region eine Kontakt- und Beratungsstelle aufgebaut. Im vorigen September eröffnete eine therapeutische Wohngemeinschaft für sieben Leute, eine der ersten in Brandenburg. Noch in diesem Jahr soll eine Tagungsstätte integriert werden.

„Doch“, meint Hans Luger und läßt den Blick über das Gelände schweifen, „eine ganze Menge haben wir schon geschafft.“ Die Schnitterkaserne wurde zum Wohnhaus, in der unteren Etage leben sieben Heimbewohner, in der oberen ist Platz für eine siebenköpfige WG. Gegenüber steht der Pavillon, ein neugebauter gemeinschaftsraum. Auf seinem Dach sind Sonnenkollektoren installiert, die im Frühjahr die Warmwasser- und Heizversorgung der Schnitterkaserne übernehmen. Und im Herbst wurde auch die Schilfkläranlage eingeweiht. „Für etwa fünfzig Leute ist die ausgelegt“, meint Luger stolz.

Jetzt ist ein Bauvorhaben in greifbare Nähe gerückt: Der alte Feldsteinstall soll erhalten und saniert werden. Falls die Finanzierung aus den verschiedenen Brandenburger Ministerien bewilligt wird, beginnen die Wendtshofer in diesem Jahr mit dem Ausbau des Stalls für weitere acht Heimplätze, Arbeits- und Sozialräume.

Der Wendtshof will Ort sein für ein soziales Miteinander verschiedenster Leute. Deshalb ging der Verein ursprünglich davon aus, daß im Idealfall etwa ein Drittel „Verrückte“ und zwei Drittel „Normale“ dort leben werden. Von diesem Ziel ist man noch weit entfernt: Zur Zeit leben in der WG drei „Normale“. „Drei, vier tatkräftige Mitstreiter, die auch ein bißchen Schwung in den Laden bringen, könnten wir gut gebrauchen“, stellt Ingrid Schulze fest. Die Berlinerin lebt seit etwa anderthalb Jahren als „Ehrenamtliche“ auf dem Wendtshof. Genug zu tun ist hier für jeden: Garten, landwirtschaftliche Flächen, Biogärtnerei, Gästebetreuung, Workcamps – Arbeit gibt es reichlich. „Aber auch völlig andere Ideen und Vorstellungen sind uns willkommen“, betont Ingrid Schulze. „Leute, die Lust haben, in einer sozialen Gemeinschaft zu leben, die das Landleben mal ausprobieren wollen oder auch neue Lebensperspektiven suchen – die sind hier richtig.“ Nur finanziell abgesichert müssen sie sein: Die Miete beträgt zehn Mark pro Quadratmeter, für den Lebensunterhalt muß jede/r selbst aufkommen.

Über Lebensvorstellungen gemeinsam entscheiden

Hans Luger brüht in seinem Zirkuswagen Cappuccino. „Von hier aus kann ich das Geschehen gelassener betrachten“, schmunzelt der große Mann mit der bunten Brille beim Blick aus dem Fenster. Die Schnitterkaserne, das Büro, und ein weites Stück Feld liegen im Blickwinkel. Zwei Tage in der Woche ist er hier. In Berlin kümmert er sich um eine Anbindung des Projekts an andere Ideen, und er leitet noch immer den Verein. „Alle haben viel geschafft in den letzten fünf Jahren, es hat sich aber auch viel verändert.“ Es müsse sich zeigen, in welche Richtung das Projekt weitergehen werde. Welche Lebensvorstellungen umgesetzt werden, müssen alle Beteiligten gemeinsam entscheiden.

Aber daß das Projekt leben wird, daran besteht für Hans Luger kein Zweifel. „Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir immer ein Bild ein. Im letzten Sommer, an einem lauen Abend, spazierte ich durchs Dorf. Vor einem Haus saß einer unserer Heimbewohner mit einer alten Frau auf der Bank, und sie sprachen miteinander. Da dachte ich mir: Mensch, genauso hatten wir's uns vorgestellt.“