: Wo Angst ist
■ Thalia: Des Maly Theaters zweiter Gastspiel-Streich – „Claustrophobia“
Wie können sie es wagen? Da kommt eine Truppe Russen vorbei und fädelt frech und und unverfroren alle Schrecken los, die wir gut vertäut hatten: Sucht, Liebe, Armut, Freiheit, Gewalt. Mit ihrer Produktion Claustrophobia entfesseln sie jedes noch so gut verschnürte Paket der Angst – jener janusköpfigen Bestie, die paralysiert, indem sie auf den Tod weist, und erregt, weil sie mit der Lust spielt.
Doch gemach – und der Reihe nach. Im Thalia-Theater gastiert das Maly-Theater aus St. Petersburg, vergangene Woche mit Tschechows Kirschgarten, diese Woche mit einer pulsierenden Produktion über die Kinder von Mütterchen Rußland, die alle großzieht, auch die Huren, die Krüppel und die Trinker, die Ärmsten und Wahnsinnigen. In einem dichtgedrängten Bogen ziehen die Menschen und Kreaturen akrobatisch, pantomimisch-tänzerisch an uns vorbei und spielen mit unseren Tabus. Immer ran an die Ängste: Der Schüler ist geil auf seine Lehrerin, die krüpplige junge Frau wird von ihren Mitberbern aus der Kirche gejagt, einen Ehemann überkommt die Wollust am Fleischwolf, seine Frau bepißt er. Der Mensch ist ein süchtiger Narr, und die Welt ist ein Irrenhaus. Die Truppe auf der Bühne hat die Tür zu einem weißen klinischen Ballsaal geöffnet. Wir sehen in die russische Seele – hinter der Grenze, „die man braucht, um die Nationen zu unterscheiden“ –, und in die Seele des Menschen diesseits der Grenze, der frei ist, zu gehen, wohin er will. „Wenn du nach Canossa gehen willst, kannst du nach Canossa gehen.“
Pathetisch ist die Aufführung. Und gut. Und ironisch. Keiner wird verschont in ihrer Ironie. Lenin liegt in seinem Mausoleum und darf nicht in Ruhe sterben. Die großen Dichter wie Puschkin oder Schiller kriegen ihre Werke nur besoffen zustande. Apropos: „Kann man ohne zu trinken überleben?“ Eine russische Frage? Wohl kaum, genausowenig wie die Russen die Armut, die Krüppel und Verrückten erfunden haben.
Sie können allerdings – diesen Eindruck hinterläßt die Aufführung – mit ihnen sprechen, ohne Berührungsangst. Sie leben mit ihnen und ihrer Angst vor ihnen – wie mit einem wilden, aber vertrauten Tier. Im Thalia verfolgte ein junges begeistertes Publikum die künstlerische und inhaltliche Leistung des Maly-Theaters mit Hochspannung und Zwischenapplaus. Ein alter Satz zeigt in diesem Gastspiel die Richtung: Wo die Angst ist, da geht's lang. Elsa Freese
Noch heute, 20 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen