Klavierklimpern im Kokon

■ Anna Enquist liest aus „Die Erbschaft des Herrn de Leon“

Wanda ist eine Frau ohne Eigenschaften. Gelegentlich gönnt sich die spätere Konzertpianistin ein paar Emotionen, wie ihre Verehrung des jüdischen Klavierlehrers Herrn de Leon, die sie sich dann wie eine kostbare Bluse überstreift. Krisen langweilen sie. Nur der eigene innere, stets wohldosierte Tumult, wenn sie notengewordenen Emotionen andere nachspürt, ist von Belang. Wenigstens bis zur Konzertpause.

Wanda Wiericke, die Hauptfigur aus Anna Enquists neuem Roman Die Erbschaft des Herrn de Leon ist eine Weltflüchtige, wie sie die Moderne als exzeßgeplagte Protagonistinnen so liebte. Impressionistische Leider, die an nichts genesen können, als der eigenen Bespiegelung im anderen oder, wie hier, im Widerklang ihrer selbst beim Spielen einer Bach-Partitur. So spielt sich Wanda durch die Zeiten. Statt Pubertätsnöte, Lust und Leiden Etüden rauf und runter. Die eitelste Erfolgsvision, vor einem ihr verfallenen Publikum in die Unsterblichkeit einzugehen, immer vor Augen. Der Krieg, die sich aufreibenden Eltern, die Deportation des Klavierlehrers, die Geburt des mongoloiden Bruders Frank (den Wanda unter Zusammenraffen aller verfügbaren Zärtlichkeiten „Mongölchen“nennt) – alles wird unscharf unter der Käseglocke der wahrnehmungsreduzierten Virtuosin. Auf jede Katastrophe folgt ein musikalisches Fest, auf den Tod des Vaters eine Fingerübung.

Enquist, die bereits für Das Meisterstück von der Kritik sehr gelobt wurde, schreibt klar und schnörkellos. Und dennoch gelingt es ihr nicht immer, über das Binnenleben der Wanda hinaus eine Perspektive zu linieren. Gäbe es nicht absurde, schon pietätlose Passagen wie diesen wunderbaren Anfang „Der in der Luft baumelnde Flügel zeichnete sich wie ein Kotelett gegen die schneebedeckten Bergspitzen ab“, Alma Enquists leichthändig verfaßte Stimmungs- und Klangbilder drohten ein wenig wie ein frühes Mozart-Menuett zu verplätschern.

Birgit Glombitza

Anna Enquist, „Die Erbschaft des Herrn de Leon“, Luchterhand, 1997, 215 S. Lesung: heute, Literaturhaus, Schwanenwik 38, 20 Uhr