Dekonstruktion aus dem Schlafzimmer

Wunder gibt es immer wieder: Englands jüngster Popdarling ist ein schüchterner Homerecorder namens Jyoti Mishra alias White Town. Seine CD „Women In Technology“ versteht er als Beitrag zur Abschaffung des Patriarchats  ■ Von Hanspeter Künzler

Wie ein Popstar sieht er tatsächlich nicht aus, dieser Jyoti Mishra. Mit seinem schrankartigen Körperbau, der goldgerahmten Studentenbrille, seiner gigantischen, schnörkelfreien Lederjacke und dem wohlentwickelten Doppelkinn wirkt er eher wie ein erfolgreicher Finanzberater. Kein Wunder, hat die Dame von der Plattenfirma vor einer Weile noch verlauten lassen, Interviews mit dem neuesten Shooting-Star des britischen Pop fänden erst statt, wenn gewisse Probleme mit dem Image geklärt seien.

Nun – die Probleme scheinen behoben, oder vielmehr: Jyoti Mishra hat auch in dieser Beziehung seinen Schädel durchgesetzt und gibt sich eben so, wie er ist. Das liegt ganz im Stil seiner überraschenden Hitsingle „Your Woman“ und dem dieser hart auf den Fersen folgenden Debüt-LP „Women In Technology“. Die darauf befindlichen Lieder gehören zu einem Katalog von 400 Stücken, die sich nach achtzehn Schaffensjahren in Mishras Schublade gestapelt haben. Allesamt hat er sie im konsequenten Heimverfahren mit Hilfe einer 8-Track-Maschine und einiger Billigelektronik selber eingespielt.

Jyoti Mishras Glücksfall begann vor drei Monaten. Seit geraumer Zeit war von ihm hie und da eine Single erschienen, in Kleinstauflage beim amerikanischen Kleinstlabel Parasol. Aber trotzdem war sein Ruf in der Heimat noch kaum über die Grenzen der mittelenglischen Provinzstadt Derby hinausgelangt, wo er dereinst mit den Eltern hingezogen war und nun an der Uni Soziologie studierte. Jetzt mischte er als DJ „Your Woman“ unter seine Selektion von klassischen New-Wave-, Cabaret-Voltaire-, Kraftwerk- und Fad-Gadget-Tracks.

Das Echo war positiv, und Mishra schickte sein Bändchen an die BBC – und die spielte es. Und spielte es noch mal. Und noch mal. Und noch mal...

„Und noch immer war keine Plattenfirma interessiert!“ entrüstet sich Mishra in Erinnerung an die frustrierende Zeit. Endlich aber fand ein PR-Mann Gefallen an dem stark an die frühen 80er Jahre erinnernden Song. Er war eh soeben daran, ein Plattenlabel zu starten und war im Gespräch mit einem Plattenmulti betreffs Vertrieb und Vermarktung. Mishra, alias White Town, wurde sein erstes Produkt.

Vier Wochen nach der Unterschrift kam die Single, und die sprang in der Erscheinungswoche direkt an die Spitze der britischen Popcharts, und von da aus hat sie nun den Gang durch die Hitparaden der Welt angetreten.

„Nein, nein, nein!“ ruft Mishra empört auf die Frage, ob er in Versuchung geraten sei, die Lieder neu einzuspielen, jetzt, wo ohne Zweifel der Cash da wäre für ein High- Tech-Studio und einen cleveren Produzenten. „Ich werde nie in einem großen Studio arbeiten! White Town wird immer 200prozentig von mir kontrolliert werden.“

Beim Thema Homerecording gerät er schwer in Fahrt: „Alles auf dem Album wurde in meinem Schlafzimmer aufgenommen, und so wird es in absehbarer Zukunft bleiben. Ich mag nämlich die großen Studios und das, wofür sie stehen, nicht, so wie ich auch die meiste gegenwärtige Musik nicht mag. Meiner Meinung nach ist da fast alles nur Scheiße. Und zwar deswegen, weil keiner mehr ein Risiko eingeht. Die ganze Industrie hat Angst davor, Verkaufsziffern, Gold und Karrieren zu verlieren. Mir aber geht's einzig und allein um die Kunst. Solange die Kunst stimmt, fuck alles andere!“

Wer mit Mishra über die Inhalte seiner Kunst diskutiert, landet bald bei Wilhelm Reich, geht von da aus in alle Richtungen kritischer Theorie. Der Weg führt über Frantz Fanon, Theodor W. Adorno, Baudrillard und Horkheimer zur feministischen Theoretikerin Andrea Dworkin. „Siehst du“, erklärt Mishra, „es ist wichtig, daß ich mich mit ihren Thesen auseinandersetze. Denn in meiner Arbeit geht es ja grundsätzlich, implizit, um Liebe, Tod, Sexualität und Politik. Meine Suche nach einem eigenen Weg führt durch die Musik. Aber ich will keine Sloganlieder singen, das bringt nichts. Ich habe ja auch keine Antworten. Ich will nur sagen: Das macht mir angst, dort sehe ich Probleme. Was passiert hier? Deswegen heißt die LP „Women In Technology“ – ich frage mich, was es für die menschlichen Beziehungen bringen wird, wenn das Internet bald überall ist.“

Nicht nur vom Image und von der Do-it-yourself-Mentalität her paßt Mishra nicht in die gängige Popschablone. Darauf weist schon der Name White Town hin. „Ganz grundsätzlich steht im Kern meiner Musik all das, was mich prägte als Inder, der als Kind nach England kam. Ich war drei Jahre alt, als meine Eltern umsiedelten. Mit fünf, sechs Jahren wünschte ich mir nichts sehnlicher, als weiß zu sein, denn ich fühlte mich vollkommen ausgeschlossen von meiner Umgebung.“ Mishras Eltern waren Ärzte und wohnten nicht in den Zentren indischen Lebens im großen kleinen Britannien, sondern in Pontypridd, Kettering, Wellingborough, Norwich, Bristol und endlich Derby.

„Ich bin in England aufgewachsen“, sagt Mishra, „habe das englische Schulsystem genossen – aber da ist auch noch die Erinnerung aus den Geschichtsbüchern, was Großbritannien für Indien früher bedeutete. Die Auseinandersetzung mit diesem Dilemma ist nicht einfach.“

So wurde Mishra als Teenager zum militanten Politiker. Vor seinem Popruhm verbrachte er das letzte Mal längere Zeit in London, als er an den Demonstrationen gegen Rupert Murdochs Firmenpolitik im East End teilnahm. Aber bei seiner kleinen Linksaußenpartei gab er den Austritt, „weil nur weiße Männer drin waren. Wie wollen die gegen das Patriarchat anstinken?“

White Town: „Women In Technology“ (EMI)