: Musik Von René Martens
Ein kluger Kollege hat unlängst darauf hingewiesen, daß ein altes Vorurteil über das Wesen der Journalisten mittlerweile dringend über Bord geworfen gehört. Früher hieß es oft, die Medienarbeiter versuchten durch Schreiben ihre Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren, und besonders verrißdurstigen Musik- und Filmkritikern sagte man nach, sie würden es niemals verwinden können, daß es zum Dylan oder Godard nicht gereicht hat.
Heute ist es umgekehrt: Vielen Songs und Filmen merkt man an, daß die Bands und Regisseure der Welt in erster Linie mitteilen möchten, wie groß und exquisit ihre Plattensammlung ist und wie sehr sie ihre Lieblingsfilme verinnerlicht haben. Nur weil sie keine Kontakte zum Medienmob hatten und sie nirgendwo einen langen Riemen über ihre Leidenschaft loswerden konnten, mußten sie Künstler werden. Immer mehr Kritiker wiederum geben sich keine Mühe zu verbergen, daß sie von der jüngeren Pop- und Filmgeschichte nicht allzuviel mitbekommen haben.
Ich hingegen gehöre noch zur alten Schule der Komplexbeladenen. Dabei ist es bestimmt nicht auf fehlende Begabung zurückzuführen, daß ich heute nicht ein paar Mal am Tag auf MTV zu sehen bin. Nein, schuld daran, daß ich Texte schreibe wie diesen hier, ist allein ein wirrer, kunsttreibender Kneipier aus der Nachbarschaft.
Deutschländer hieß der Bursche, und einen Vornamen brauchte er deshalb nicht. Den kannte zumindest keiner. Deutschländer wohnte in einer verrotteten Villa in einer kurvenreichen Straße. Wenn man den verhinderten Blockwarten aus der Nachbarschaft glauben durfte, machten in seiner Bude häufig Päderasten einen drauf. Seine Pinte überstand zwar nur anderthalb Sommer, dann wurde sie umfunktioniert zu einem Chillout-Raum für Taxifahrer, die um vier Uhr nachts noch einen Schmachter nach frikadellenartigen Klumpen verspürten. Doch immerhin gelang es Deutschländer, in dieser Zeit eine Handvoll legendärer Abende zu inszenieren.
Manchmal rückte der Freizeit- Kreative einige Tische seines Salons zusammen und legte ein geringfügig bemaltes, vielleicht auch bespraytes Leintuch darüber. Darauf ließ er dann, unter fachmännischen Anfeuerungen seiner Stammgäste, einige Hühner herumtoben und -kacken. Hernach spannte oder legte der Irre, der offensichtlich die Konzepte mehrerer grundverschiedener Künstler gleichzeitig mißverstanden hatte, das Tuch spätabends auf die Schienen einer S-Bahn-Strecke, wartete, bis ein Zug rüberfuhr, und sammelte schließlich die Überreste ein. Die Fetzen wiederum stellte er dann in seiner Spelunke aus.
Eines Abends, es muß 1983 gewesen sein, gewährte Deutschländer meiner Combo Zutritt zu einem bühnenähnlichen Abschnitt seines Etablissements, obwohl wir keinerlei Referenzen vorzuweisen hatten.
Unser notorisch dilettantischer Lärm-Rock irritierte erwartungsgemäß die Freunde der Hühnerkacke; der Chef jedoch war begeistert und fühlte sich bemüßigt, den Lärm ausgerechnet mit seinen Werken zu vergleichen: „Ihr macht das genauso wie ich.“
Klar, daß wir danach nie wieder ein Instrument angerührt haben.
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