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„Wie es nun wirklich gewesen ist...“

■ Zur Tagung „Die Macht der Geschichte. Ungarn 1848/1956/1989“

Wem gehört die ungarische Revolution von 1956? War sie links? War sie links den Worten, aber konservativ der Substanz nach? Also eigentlich gar keine Revolution, sondern ein nationaler Freiheitskampf gegen die sowjetischen Okkupanten? War sie vielleicht beides? Oder sind das nur Schlagworte der heutigen Auseinandersetzung innerhalb der „Deutungseliten“, die, je nach politischem Bedarf, Geschichtsbilder zurechtzimmern? Peter Steinbach, auf dem Feld der Analyse von „Geschichtspolitik“ tätiger Historiker, und Gyorgy Dalos, durch politische Umstände verhinderter Historiker, Schriftsteller und Leiter des ungarischen Kulturzentrums zu Berlin, waren die beiden Patrone einer Tagung „Die Macht der Geschichte, Ungarn 1848/1956/ 1989“, die Ende letzter Woche im Haus Ungarn in der Ostberliner Karl-Liebknecht-Straße stattfand.

Ein lehrreiches, angesichts der Anwesenheit vieler Veteranen des Jahres 1956 auch anrührendes Unternehmen, vor allem aber ein Fest des Aneinandervorbeiredens. Denn die vorwiegend jungen deutschen Wissenschaftler, erpicht auf die Erprobung ihres ideologiekritischen Handwerkzeugs, strebten die Ebene der Konstruktion von Geschichtsbildern an.

Die Ungarn hingegen, ob Zeitzeugen oder Historiker, waren an Fragen kritischer Methodologie herzlich wenig interessiert. Ihnen ging es um Realgeschichte, um den Aufweis und die Gewichtung der unterschiedlichen Ansichten, Konzepte und Ideologien, die damals, 1956, oft genug in demselben Kopf, miteinander im Streit lagen. Immer noch treibt sie die Frage des alten Herrn von Ranke um, „wie es nun wirklich gewesen ist“. Beim Vortrag des deutschen Historikers Edgar Wolfrum über „Die Lehren von 1848 als politisches Leitbild im Kalten Krieg der 50er Jahre“ sahen ungarische Diskussionssteilnehmer die Gefahr aufkommen, daß sich ein höchst reales Faktum, der Kalte Krieg, in ein zu Propagandazwecken zurechtgemachtes ideologisches Konstrukt auflöste. Andererseits standen die deutschen Historiker etwas ratlos vor dem Streit, welche Rolle antikapitalistisches Gedankengut nun wirklich in der Revolution gespielt hatte. So konnte nicht ausbleiben, daß der Vorwurf sachlicher Inkompetenz ungarischerseits, der der methodischen Naivität deutscherseits sich überkreuzten, höflich allerdings und liebenswürdig. Schließlich war man im Haus Ungarn zu Gast.

Die Auseinandersetzung um den Charakter der damaligen „Ereignisse“ hatte auf der Berliner Tagung eine aktuelle politische Pointe. Wie in den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks wächst in Ungarn, parallel zu den Schwierigkeiten des Übergangs, die „Dekommunisierungswelle“. Deren Opfer sind paradoxerweise nicht so sehr die ehemaligen Machthaber, Nutznießer und stillen Anpasser, sondern die Reformkommunisten. War Imre Nagy, Ministerpräsident der Revolutionsregierung von 1956, nur der „gute Gefängniswärter“? Diese Position der ungarischen Jungen Demokraten (Fidesz) zu verteidigen, fiel selbst dem beredten Anselm Barany, Vertreter dieser Partei auf der Konferenz, ziemlich schwer.

Hinter dem Streit um die Wertung der Person Imre Nagys schwelt der Streit um die Entwicklungsmöglichkeiten eines „dritten Weges“ zwischen Realsozialismus und kapitalistischer Marktwirtschaft. War in der ungarischen Rätebewegung des Herbst 1956 ein solcher Ausweg vorgezeichnet, wofür seinerzeit Hannah Arendt leidenschaftlich plädiert hatte? Oder war der „dritte Weg“ eine Sackgasse, eine typische Übergangsideologie, die heute zu einem Vehikel der ungarischen Rechten in ihrem Kampf gegen „Amerikanismus“ und „Konsumismus“ degeneriert ist? Jahrzehntelang war die Revolution von 1956 nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im Gespräch engster Verwandter tabuisiert. Jetzt wandert die Erinnerung an sie ins kulturelle Gedächtnis, unterliegt dem Wettstreit der Symbole und inszenierten Erinnerungsfeiern. Trotz beharrlicher Bemühungen des Budapester Instituts zur Erforschung der 56er Revolutionsgeschichte, in dem sich die über die Welt zerstreuten ungarischen Historiker zusammengefunden haben, stehen die Chancen für einen angemessenen Platz von Imre Nagy und seinen Gefährten im nationalen Pantheon nicht so gut.

Der heilige Stefan, Christianisierer der Magyaren und Begründer des Königreichs, zu dessen Erben die Habsburger wurden, hatte letztes Jahr das vielgefeierte 1.000jährige Jubiläum seiner guten Tat. Umfragen zufolge ist er heute die Lieblingsgestalt der Ungarn. Und was sind vierzig Jahre gegen ein Millennium? Christian Semler

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