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Andalusische Nachtbar namens Mainz

Vom Verschwinden aus der Zeitungszeit. Peter Handkes neuer Roman „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“. Erst in der Steppe, dem Terrain des Erzählers, ist der Aufschreiber und Wahrnehmer bei sich  ■ Von Hans-Ulrich Treichel

Zwei Seelen wohnen in seiner Brust. Die eine favorisiert das Heilige, lobt das Staunen, steigert „das Erzählen“ und „die Erzählung“ zu höheren Wesenheiten, kennt Vokabeln wie „Zurüstungen“ oder „Raumverdränger“, ist friedfertig, ja friedens- und erlösungssüchtig, körperfremd und zuweilen ganz gnostisch und materiefern gestimmt. Die andere aber sieht sich ins wirkliche Leben verstrickt, schickt ihren Dichter zum Dichten aufs kleinstädtische Postamt, weil zu Hause der neurotische Nachbar lärmt und die Lautsprecherboxen in Richtung Dichterhaus aufgestellt hat, ärgert sich über Behörden, sagt Böses über seine Mitmenschen und kauft im Supermarkt ein. Ersterer haben wir Texte wie Handkes „Über die Dörfer“ oder „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ zu verdanken, letzterer das anekdotenreiche, alltagsnahe und gelegentlich auch selbstironische „Mein Jahr in der Niemandsbucht“.

Normalerweise kann man sich seine Dichter nicht aussuchen und muß sie nehmen, wie sie sind. Im Fall Handke können wir es gelegentlich doch. Und wer den Autor, der auf Pilgerpfaden wandelt, nicht mag, der wird sich möglicherweise mit dem anfreunden, der aufs Postamt geht. Doch müssen zwei Seelen (es können auch mehr sein) nicht unbedingt einen gespaltenen Menschen respektive Autor ausmachen. Sie können ihm auch seine eigentliche Identität erst verleihen. Ganz ähnlich wie bei Botho Strauß, der ebenfalls die Doppeltheit von Alltags- und Medienverfallenheit einerseits und alltags- und medienflüchtiger Erlösungssehnsucht andererseits in literarisch ganz unterschiedlich gestimmten Texten jeweils neu ausagiert, so ist auch die spezielle Produktivität Handkes wohl nicht zuletzt dieser beständigen Dauerspannung zu verdanken, die nicht zur Ruhe kommen will, sosehr auch – und je mehr – der Autor diese Ruhe, den erlösten Geist der Erzählung beschwört. Schreiben kann so zu einer beständigen Fluchtbewegung werden, und es ist gewiß kein Zufall, daß wir dem Erzähler und seinen Figuren immer wieder als Reisenden, Spaziergänger und Wanderer begegnen.

Auch der Apotheker von Taxham, der Held von Handkes neuem Roman, ist so ein Reisender. Grund genug zum Reisen hat er. Ist doch der Ort Taxham bei Salzburg einer dieser irdischen Unorte, denen man noch die Dantesche Hölle vorziehen möchte: gebaut wie eine „Lager- und Kasernensiedlung“, eingezwängt in ein „Transportliniendreieck“ aus Autobahn, Fernzuggleisen und Flughafen, eingezäunt „von baumhohen, dichtverzahnten Hartholzhecken“ und „zu erreichen fast nur auf weitkurvigen, umständlichen Wegen und durch Unterführungen“.

Doch wenn man schon in Taxham arbeitet, dann wohnt man wenigstens nicht dort. „Auch der Apotheker hatte sein Haus außerhalb von Taxham [...], nahe dem Grenzfluß Saalach“, und sein Leben verlief „in dem Dreieck zwischen dem Haus am Flußdamm, der Apotheke und dem Flughafen“, wo er regelmäßig zu Abend ißt, „einmal mit seiner Frau, einmal mit seiner Geliebten“.

Kein Wunder also, daß der Mann auf Reisen geht, wenn auch nicht wie früher bloß in die Welt hinaus. Der Apotheker, dessen Passion die Pilzkunde ist und dessen Lektüre ein mittelalterliches Ritterepos, begegnet einem sprechenden Raben und verschwindet aus seiner Zeit, die ja nichts ist als „Zeitungszeit“, in die ganz andere seiner Geschichte. Im nächtlichen Wald trifft ihn ein Schlag am Kopf, der „den letzten Apotheker- und Laborgeruch“ aus ihm herausklopft. In einem „Erdkellerlokal“ begegnet er zwei Gefährten, mit denen er seine Reise fortsetzt: einem Dichter und einem ehemaliger Skichampion. Die Reise geht in ein wundersames Santa Fé, eine Art modernes Babel, in dem viele Sprachen zugleich gesprochen werden und das zudem noch dadurch verwirrt, daß die Einheimischen, die von den Fremden mit „Hola“, „Buenas noches“ oder „Adiós“ gegrüßt werden, diesen mit „,Hallo‘, ,Hi‘, ,Guten Tag‘, ,Tschüs‘, ,Ciao‘, ,You were welcome‘, ,Servus‘“ antworten.

Hier, wo eine „arabisch-andalusisch gekachelte Nachtbar“ den Namen „Mainz“ trägt, gerät auch die Gewißheit, überhaupt in der Ferne zu sein, ins Wanken. „Waren sie überhaupt von der Stadt Salzburg weggefahren?“

Und hier, im entweder wirklich fernen oder bloß durch ein „Fernegefühl“ entfernten Santa Fé, trifft der Dichter seine ihm bis dahin unbekannte Tochter, die auf einem Straßenfest die „Straßenfestkönigin“ spielt. Auf die Frage des „Aufschreibers“ nach der Mutter des Mädchens – „Was war mit ihr?“ – antwortet der Apotheker mit einem poetologischen Prinzip, das für den gesamten Roman gilt: „In der Schwebe lassen.“

Wohl lassen sich die „Fakten“ der Story noch einigermaßen klar referieren, in der Schwebe aber bleibt das, was wir durch diese überhaupt erfahren. Der Apotheker trennt sich von den Gefährten, begegnet einer Frau, die ihn schon seit längerem verfolgt hatte, tritt schließlich aus der imaginären Geographie hinüber in die eines realen spanischen Zaragoza, kommt zurück nach Taxham, um seine unterbrochene Lektüre des Epos „Ivain oder der Löwenritter“ fortzusetzen.

Es scheint, als sei der Apotheker in seinem Buch verschwunden und durch es hindurchgegangen, um an der Stelle wiederaufzutauchen, an der er die Lektüre unterbrochen hatte. Ein Bildungsroman also, der auf die verwandelnde Macht der Literatur vertraut? Vielleicht. Und vielleicht auch ein Märchen, in dem wir ein wenig wie Blinde umherirren. Ganz sicher aber auch ein Buch über das Erzählen. Und darüber, daß nicht nur der erzählende Apotheker, sondern auch der „Aufschreiber“ selbst sich seiner Geschichten niemals gewiß sein kann. „Ich merkte“, heißt es an einer Stelle, „meine Geschichte stand auf dem Spiel.“

Auf dem Spiel steht die Geschichte bis zum Schluß des Romans. Der Text muß sich beständig gegen die Flüchtigkeit des eigenen Materials behaupten. Er hat, wie der Apotheker selbst, keinen wirklichen Ort und keine wirkliche Zeit. Es spricht für den Autor, daß er seine Geschichte nicht aus der bloßen Opposition von leerer Gegenwart, „Zeitungszeit“, und mythisch erfüllter Zeit konstruiert hat. Das wäre bloß ideologisch. Auch im phantastischen Santa Fé ist die Welt nicht bei sich, auch in Utopia werden die Bürgersteige hochgeklappt.

Wenn es einen Ort gibt, dem der Roman so etwas wie eine höhere Dignität zugesteht, dann ist es die Steppe. Sie durchwandert der Apotheker auf seinem Rückweg, sie ist das Land, das Santa Fé verbindet mit Taxham. Hier in der Steppe aber ist der „Aufschreiber“, der immer auch ein „Wahrnehmer“ ist, noch am ehesten bei sich: „Grau war die vorherrschende Farbe der Steppe, silberschleiergrau. Und ein Geruch stieg davon erst auf, sowie er mit den beiden freien Händen da hineingriff, in die grau verblühte Kamille, die Anisstauden, die ebenfalls grau verblühten Lavendelbüsche.“ Die menschenferne, verdorrte und ausgetrocknete Steppe, dieses Nichts zwischen den Welten, wo der Wind die dürre Vegetation rascheln läßt „wie beim Umblättern eines Dünndruckpapiers“, ist das ureigentliche Terrain des Erzählers: im emphatischen Sinne sein Ort. Der leere Ort zwischen und jenseits von Taxham und Santa Fé ist es, der Wahrnehmung geradezu erzeugt und in den besten Momenten in Poesie überführt. Hier, wo nichts mehr ist, weder Alltag noch imaginäre Fremde und auch keine Menschen, ist sich der schauende, schmeckende, riechende Erzähler seiner selbst gewiß wie nirgendwo sonst in seinem Werk.

Peter Handke: „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1997. 316 Seiten, 48 DM

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