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Die „Stammeskrieger“ machen Pause

Jugendliche organisieren sich eher in losen Gruppen als in martialisch auftretenden Gangs. Gewaltbereitschaft ist weiterhin groß. Hohe Identifikation mit eigenem Kiez  ■ Von Jeannette Goddar

Der Begriff „Streetgangs“ war noch harmlos. Und immer noch besser als „Jugendgruppen“ – oder gar „Jugendgruppengewalt“. Doch auch von „Stammeskriegen“ war die Rede, von „Killerkommandos“, „Bürgerkrieg“. Alle wußten, wo sie waren, welchen Kiez sie kontrollierten: Kreuzberg war über Jahre fest in den Händen der 36 Boys und der Black Panther. Dann gab es da noch die Fighters, die Türkiye Boys, die Alis. Sie alle waren leicht zu erkennen: Einheitsjacke, Einheitscap, breitbeiniger Gang.

Auf der anderen Seite lauerten die Faschos, Skinheads, Neonazis. Vom Lichtenberger Kameradschaftsbund oder dem Schönefelder Sturmtrupp. Auch zahlreiche in rechten Strukturen Organisierte waren darunter: von der Nationalen Alternative, der Deutschen Alternative, der Nationalistischen Front, der Wiking-Jugend. Irgendwie dazwischen waren alle anderen: Sprayer, Skater, Biker, Gruftis, Punks. Selbst die Guardian Angels – selbsternannte Schutztrupps im öffentlichen Personennahverkehr – sah man regelmäßig im Görlitzer Park trainieren.

Die Zeiten sind vorbei. Egal, ob am Kottbusser Tor, am Nauener Platz oder in Kaulsdorf-Nord – keine martialisch auftretenden Gangs treten einem mehr entgegen. „In dieser Form gibt es die Gruppen nicht mehr“, sagt auch Elvira Berndt, Geschäftsführerin bei Berlins größtem Streetwork- Träger, Gangway e.V. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum Teil sind die Leute älter geworden, und es kam kein Nachwuchs, in anderen Fällen sind die Anführer in den Knast gewandert. Massive Polizeieinsätze taten ein übriges, um die Gangs zu vertreiben. Auf der „rechten Seite“ wurden viele Schlägertrupps durch die Verbote vieler Organisationen und Parteien sowie durch die Beobachtung des Verfassungsschutzes geschwächt. „Zum Teil hat sich auch der Selbstschutz gegen rassistische Übergriffe erledigt“, erzählt der Kreuzberger Streetworker Ahmet Sarisu. „Die Faschos kommen einfach nicht nach 36.“ Auch die Techno- und HipHop-Welle mit ihrer „One family“-Ideologie habe viel verdeckt, glaubt der Hohenschönhauser Kollege Stefan Schützler.

„Daß es weniger erkennbare Gruppen gibt, heißt aber nicht, daß die Kids weniger heftig sind“, so Elvira Berndt. Und diesen Eindruck vermittelt auch die Statistik: Bei der Zentralstelle für Jugendsachen beim Landeskriminalamt ist zwar die Zahl der registrierten Straftaten im Bereich Jugendgruppengewalt 1996 um fast ein Zehntel zurückgegangen. Gleichzeitig stieg aber der Anteil der Jugendlichen unter allen Tatverdächtigen um 5,4 Prozent. Die höchsten Steigerungsraten weisen die Delikte Raub und Sachbeschädigung auf. Auch die Liste der „blinden“ und oft blutigen Überfälle auf Andersaussehende oder einfach nur im Weg stehende Passanten wird länger und nicht kürzer.

Das Potential der losen Gruppen schätzen auch die Streetworker nach wie vor als enorm ein: „Im Moment hängen immer so um die zwanzig Leute im Thälmannpark in Prenzlauer Berg rum“, erzählt Schützler. Schon beschweren sich die Anwohner, die Betreiber des Kulturzentrums Wabe fürchten um ihre Besucher. „Wenn die jetzt mit nur zehn anderen Streß kriegen, können das ganz schnell drei- bis vierhundert werden.“

Gerade im Ostteil seien die Jugendlichen nach wie vor „chronisch unterversorgt“, wie es im Pädagogenjargon heißt. Das heißt: keine Clubs, keine Freizeitheime, keine billigen Kneipen, keine Kinos. „Die haben einfach unwahrscheinlich viel Zeit“, so Schützler. „Wenn dann mal was los ist, sind sie ganz schnell da.“ So kommt es dann auch wieder vor, daß Kids aus lauter Langeweile Streß anfangen und anschließend selbst zur Telefonzelle wetzen und die Polizei anrufen. Besuch von Ordnungshütern macht den tristen Alltag interessanter. „Manchmal fangen sie ganz blöde an, mit Steinen aufeinanderzuwerfen.“

Ein klassischer Verteilungskampf um die knappen Räume bahnt sich in Mitte und Friedrichshain an. Viele türkische Familien sind vor den gestiegenen Mieten aus Kreuzberg in den nahen Ostteil geflüchtet. Jetzt fangen die Kinder an, ihre Räume zu besetzen, Clubs für sich in Anspruch zu nehmen. Und auch vom Wedding aus sind sie dabei, die Gegend um die Veteranenstraße zu erobern.

Die deutschen Kinder ziehen dabei meist den kürzeren. „Der Organisationsgrad bei den Türken ist höher“, sagt die Streetworkerin Mirtha Dupetit. „Das Bedürfnis nach Zusammenhalt ist viel ausgeprägter. Und oft treten da gleich fünf bis sechs Geschwister gemeinsam auf.“

Konflikte von der Qualität der frühen Neunziger drohen aber nach Ansicht der Gangway-Mitarbeiter, die inzwischen in zwölf Bezirken tätig sind, vor allem in den Plattenbausiedlungen im Osten. Nicht nur weil das Leben dort an Tristesse kaum zu überbieten ist. „Die Leute identifizieren sich dort viel mehr mit ihrem Kiez“, sagt Schützler. „Die Jungs sind so alt wie ihre Häuser.“ Bedroht sind vor allem Aussiedler. „Wenn die Hohenschönhauser sich mal richtig organisieren würden, hätten die überhaupt keine Chance. Dann stehen auf einen Schlag 800 Deutsche vor ihnen.“

Und auch viele der alten Faschoführer kommen wieder aus dem Knast oder stehen kurz vor der Entlassung. Wer sich nach Hellersdorf oder Marzahn traut, sieht deutlich, daß die Erkennungsmerkmale Bomberjacke, Springerstiefel und Glatze wieder schwer im Kommen sind. Und auch die massiven Übergriffe der vergangenen Wochen – offiziell immer noch als Einzeltaten abgetan – sprechen eine deutliche Sprache. Noch ist der Kampf im großen Stil nicht wiedereröffnet. Aber der Hohenschönhauser Schützler bestätigt auch, daß rechtsextreme Organisationen wieder zur Rekrutierung ansetzen. Da werden die Gegner nicht lange auf sich warten lassen.

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