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Große Koalition gegen die Einmischung

Großbritannien vor den Wahlen (III): Die Europäische Union ist zum heimlichen Motor der britischen Innenpolitik geworden. Nur sie könnte Labours Wahlsieg noch gefährden  ■ Aus London Dominic Johnson

Die bisher stärkste Wahlhilfe erhielten die angeschlagenen britischen Konservativen vor einer Woche aus Amsterdam. Jacques Santer, Präsident der EU-Kommission, regte sich in einer auf englisch gehaltenen Rede vor dem Verband europäischer Journalisten über die Euroskeptiker ganz Europas auf, die er „doom merchants“ nannte – etwa: Marktschreier des Untergangs. „Wissen diejenigen, die uns kritisieren, wovon sie reden?“ fragte er. „Haben sie eine Alternative? Wenn ja, welche? Wollen diese Marktschreier des Untergangs, daß wir uns zurückbewegen in ein Europa der einfachen Handelsverträge? Wir haben nur eine Wahl: weitermachen.“

Santer sagte nichts, was EU-Enthusiasten nicht sowieso jeden Tag sagen, aber die Reaktion aus Großbritannien war ungewöhnlich heftig. Premierminister John Major höhnte, Santers Vision für Europa ähnele der Tony Blairs, der nach einem Wahlsieg als allererstes die britische Souveränität an die EU abtreten werde. Blairs Labour-Partei wehrte sich erbost gegen die „Einmischung“, und Chris Smith, Mitglied des Schattenkabinetts, meinte: „Wir brauchen keine Ausländer, die uns sagen, wie wir wählen sollen.“

In den Tagen darauf begann der zwanzigprozentige Labour-Vorsprung in den Wahlumfragen erstmals zu bröckeln – in einer Erhebung fiel er sogar auf fünf Prozent. Also schrieb Tony Blair einen seiner berüchtigten Gastkommentare in seinem neuen Hausblatt, der rechtspopulistischen Sun. Anläßlich des Namenstags des heiligen Georg, der der Legende zufolge einen Drachen besiegte und seit den Kreuzzügen einen herausragenden Platz in der englischen Wappenkultur einnimmt, erklärte er im Vier-Millionen-Blatt: „Mit mir wird es keinen europäischen Superstaat geben. Sollte es Versuche geben, diesen Drachen zu erschaffen, werde ich ihn schlagen.“

Europa ist in der letzten Woche des britischen Wahlkampfs zu einem Hauptthema geworden. Die Tories haben gemerkt, daß sie mit einer erklärten Euroskepsis Punkte sammeln können. Zu Hunderten erklären konservative Parlamentskandidaten ihre strikte Ablehnung einer Einheitswährung und eines Einheitsstaates, obwohl das nicht im Parteiprogramm steht – und nach eigenen Angaben zahlt sich das aus. „Europa ist das einzige Thema, das Labour-Wähler dazu bringen kann, direkt zu den Konservativen überzulaufen“, sagt der Tory-Kandidat im von Labour gehaltenen Südlondoner Wahlkreis Tooting, James Hutchings, der sich entgegen allen nationalen Trends siegessicher gibt. Der Chefredakteur des Independent, Andrew Marr, erkennt in einem Leitartikel eine „hastige Flucht weg von Europa – zweifellos von den Botschaften der Wählerzielgruppen verursacht: Weiche Labour- oder Tory-Wähler könnten von der Partei gewonnen werden, die am meisten nationalistische Beruhigung stiftet“.

Europagegner sind keine finsteren Chauvinisten

Nach Jahren harter Wühlarbeit haben die Euroskeptiker das intellektuelle Argument in britischen Augen so gut wie gewonnen. Natürlich ist die Aufgabe der Währungssouveränität und der Beitritt zu einer Währungsunion nicht nur eine Frage der Abwägung ökonomischer Basisdaten, sondern eine Entscheidung von Verfassungsrang, die ohne eine ausdrückliche Zustimmung der Wähler nicht denkbar ist – weswegen nicht nur die Konservativen, sondern auch Labour und die Liberaldemokraten einen britischen Beitritt zur Europäischen Währungsunion von einem Referendum abhängig machen. Natürlich haben verschiedene Länder in Europa verschiedene Interessen, weswegen der Nationalstaat als Rahmen demokratischer Entscheidungsfindung unverzichtbar ist – weswegen keine britische Partei eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in der EU auf Kernbereiche der Innenpolitik verspricht.

Großbritanniens Europagegner sind kein Haufen finsterer Chauvinisten, sondern eine Art Regenbogenkoalition aus Exzentrikern und Verlierern der europäischen Einheit. Die völlig marginalisierten und hoffnungslos chaotischen britischen Grünen stimmten vergangenes Jahr auf einem Parteitag für den kompletten Austritt aus der EU, wenngleich sie sich nicht getraut haben, das in ihr Wahlprogramm zu schreiben. Für sie wie auch für die meisten anarchistisch angehauchten Basisbewegungen, die in England immer wieder vehement gegen Straßenbau und Tierquälerei protestieren, ist Brüssel Hort von Umweltvernichtern und Zentralisierern.

Unter britischen Bauern und Fischern, die von der Krise um den Rinderwahnsinn und die EU- verordneten Reduzierungen der Fischereiflotten gebeutelt sind, grassiert ein vom ökonomischen Ruin getragenes antieuropäisches Gefühl, das von der rechtsnationalistischen „Referendum Party“ des Milliardärs James Goldsmith – die eine Volksabstimmung über eine Neuverhandlung der EU- Verträge fordert – mit Begeisterung und viel Geld unterstützt wird und die Tories etliche Sitze kosten könnte.

Darüber hinaus ist auch eine von Brüssel wegführende innenpolitische Dynamik in Gang gekommen. Am offensichtlichsten ist das bei den Konservativen – die sich immer in Abgrenzung gegen eine angebliche Gefährdung der von ihnen geführten britischen Nation definiert haben.

Labour nationalistischer als das Tory-Programm

Nachdem New Labour nicht mehr als rote Gefahr taugt, bietet sich jetzt der Moloch EU an, je nach politischer Großwetterlage wahlweise als deutsch-imperialer Nachfolgestaat des Dritten Reichs oder als sozialistisches Monstergeschöpf aus den kalten Hirnen französischer Bürokraten. Die Fähigkeit, virtuos auf solchen Registern zu spielen und trotzdem ernsthafte Politik machen zu können, gilt inzwischen als Voraussetzung für politische Ambitionen bei den Konservativen, und da sie nach wie vor den Herzschlag des Establishments kontrollieren, ziehen nun alle anderen nach.

So ist das Wahlprogramm Labours deutlich nationalistischer als das der Tories. Die Konservativen präsentieren gelassen und selbstbewußt Großbritannien als Weltmacht mit globalen Interessen, für die Europa eben nur eine unter vielen Loyalitäten darstelle. Mit „positiven Visionen“ werben sie für eine offene, flexiblere und erweiterte EU, wohl wissend, daß sie dafür wahrscheinlich nie geradestehen müssen. Labour dagegen wirkt angesichts der drohenden Regierungsverantwortung verkrampft. „Wir werden Großbritannien Führung in Europa geben“, ist der entsprechende Abschnitt im Wahlmanifest überschrieben, und unter einem großen Foto von Blair mit Chirac steht: „Im Gespräch mit Frankreichs Präsident Jacques Chirac übernimmt Tony Blair die Führung“. Labour will Großbritannien nach Jahren konservativen Schlendrians wieder „stark“ machen und „Großbritanniens Stolz und Einfluß als führende Kraft für das Gute in der Welt wiederherstellen“. Sogar die Liberaldemokraten, die EU-enthusiastischste Partei in Großbritannien, tragen Euroskepsis zur Schau: Da sie als erste eine Volksabstimmung über eine Währungsunion forderten, präsentieren sich jetzt manche ihrer Kandidaten als „die einzig wahre Referendumspartei“.

Vieles von der antieuropäischen Rhetorik ist dem Wahlkampf geschuldete Schaumschlägerei – aber gerade weil sie im Wahlkampf für sinnvoll befunden wird, deutet sie auf tieferliegende gesellschaftliche Reflexe hin. Noch nie haben sich die Briten gerne reinreden lassen, nicht einmal von ihrer eigenen Regierung und schon gar nicht von irgendeiner anderen. Solange die EU dies nicht begreift, wird dieser fundamental demokratische Instinkt der britischen Mehrheit sich eben an den Nationalismus halten. Auch ein noch so viriler Blair wird daran nichts ändern. Im Gegenteil.

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