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Völker, hört die Randale

Nach zehn Jahren „revolutionärer 1. Mai“ in Berlin sind den Aktivisten die politischen Themen abhanden gekommen. Jetzt regiert Frust und Dogmatismus  ■ Von Uwe Rada

Berlin (taz) – Am fleißigsten sind die Dogmatiker. Kaum ein Hauseingang, kaum ein Stromkasten, der nicht zugekleistert ist. Bis in die fernsten Winkel der Ostberliner Diaspora haben sich die Kleberkolonnen der „Revolutionären Kommunisten“ und anderer Splittergruppen vorgewagt, um zu verkünden, daß drüben, in Kreuzberg, die „traditionelle revolutionäre 1. Mai-Demo“ stattfinde und mit ihr der „zehnte Jahrestag des revolutionären Mai“.

Es sind aber nicht nur die Maoisten, Leninisten und Stalinisten der Kreuzberger Szene, die pünktlich zum „Kampftag der Arbeiterklasse“ zur Revolution rufen – auch ein Bündnis aus undogmatischen, autonomen und Antifa- Gruppen mobilisiert zur „revolutionären 1. Mai-Demonstration“: nach Ostberlin. Den ursprünglichen Plan, vom Rosa-Luxemburg- Platz in Mitte zum Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg zu ziehen, mußte das Demobündnis freilich aufgeben. Zu erbittert war der Widerstand aus dem Prenzlauer Berg. Straßenschlachten wie im vergangenen Jahr, so die einhellige Meinung, würden der politischen Basisarbeit im Kiez schaden. Auf einem eilig einberufenen Kiezpalaver wurde den Westlinken gar vorgeworfen, die Brüder und Schwestern aus dem Osten ähnlich zu entmündigen wie die CDU oder die Treuhand. Überrascht über die heftige Reaktion der Ostberliner „Genossen“ beschloß das Demobündnis darauf, die Route zu ändern. Der Aufmarsch, zu dem wie jedes Jahr 15.000 TeilnehmerInnen erwartet werden, wird nun am Rosenthaler Platz in Mitte enden.

1. Mai in Berlin. Das ist nicht nur Straßenschlacht, Bullenpogo und Feiertag der linksradikalen Szene. Das ist auch ein Spiegel für den Zustand einer Linken, der zunehmend die Politik abhanden gekommen ist. Von Kampftag der Arbeiterklasse ist da nur noch wenig zu spüren, wenn sich, wie im letzten Jahr, 14- oder 15jährige am Kollwitzplatz Straßenschlachten mit der Polizei liefern oder die Rede des DGB-Vorsitzenden Schulte am Alexanderplatz in einem gellenden Pfeikonzert untergeht. Auch den türkischen Jugendlichen, die sich seit Wochen auf den 10. Jahrestag der Mai-Randale 1987 vorbereiten, ist der politische Überbau der Demonstrationen eher lästig. Der 1. Mai in Berlin, das ist vor allem ein Tag, an dem man zu Tausenden Frust abladen kann: über einen Senat, der über der Standortwerbung die soziale Situation der eigenen Bewohner vergißt, über den Abbau von 330.000 Stellen im verarbeitenden Gewerbe, über das öffentliche Gerede des Berliner Innensenators über die „Gefahr der Überfremdung“. Damit ist der 1. Mai als Frusttag der Arbeitslosenklasse auch ein Spiegel für den sozialen Zustand der Stadt.

Das war vor zehn Jahren in West-Berlin nicht anders. Nachdem die Polizei am Morgen des 1. Mai 1987 ein Stadtteilfest in Kreuzberg auflöste, eskalierte die Situation am Abend. Viele Stunden gelang es der Polizei nicht, das Areal rund um den Görlitzer Bahnhof einzunehmen. Über das Ausmaß der Plünderungen herrschte am Tag danach allenthalben Betroffenheit. Allem Gerede des damals wie heute regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU) zum Trotz, waren es eben nicht die „Anti-Berliner“, die damals Supermärkte ausräumten und Autos zu Barrikaden zusammenschoben, sondern ein Ausschnitt der Kreuzberger „Mehrheitsbevölkerung“: Jugendliche, Sozialhilfeempfänger, Rentner, Arbeitslose. Selbst den Autonomen, die in der linksradikalen Szene von heute gegenüber den MLern nur noch eine Minderheit sind, schwante damals, daß der Aufstand mehr mit den sozialen Verhältnissen als ihrer eigenen politischen Stärke zu tun hatte.

Zehn Jahre später hat sich daran nichts geändert. Im Gegenteil. Kreuzberger Verhältnisse gibt es jetzt überall. In einer internen Prognose befürchtet die Senatsjugendverwaltung, daß die Jugendarbeitlosigkeit in der Hauptstadt von derzeit 15 bis auf 40 Prozent im Jahr 2000 ansteigen wird. Von der angeblich glitzernden Metropolenzukunft sieht man bislang nur die Schattenseiten. In Prenzlauer Berg, der Diaspora für die Kreuzberger ML-Gruppen, wehrt man sich dennoch gegen die revolutionäre Symbolik der Berliner „Mai- Festspiele“. Bereits 1992, als nach einer Straßenschlacht die Scheiben kleiner Kiezläden zertrümmert wurden, waren die linken und linksradikalen Initiativen des Bezirks auf Distanz zur Westszene gegangen. Seit drei Jahren feiern sie am Humannplatz ein eigenes Fest.

Dennoch steht der Prenzlauer Berg als widerspenstiger Bezirk bei den Westlinken nach wie vor hoch im Kurs. Der Grund: Nachdem die Polizei am Vorabend des 1. Mai 1995 die traditionelle Walpurgisnacht-Feier am Kollwitzplatz gewaltsam aufgelöst hatte, kamen binnen zweier Stunden über 2.000 Jugendliche zusammen und lieferten der Polizei bis in den frühen Morgen eine Straßenschlacht. „Sich gegen die Bullen zu wehren ist legitim“, resümiert ein Ostberliner Hausbesetzer seine Erfahrungen: „So was darf aber nicht zum Selbstzweck werden.“

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