Who shot the Sheriff?

■ Neu im Kino: „Lone Star“von John Sayles / Einer der originellsten US-Regisseure wühlt in der Vergangenheit

Es gibt Orte, in denen die Vergangenheit noch so lebendig ist, daß die Lebenden kämpfen müssen, um nicht in den Dramen der Toten gefangen zu bleiben. Frontera, eine kleine texanische Stadt direkt an der mexikanischen Grenze ist solch eine von vergangenen Sünden heimgesuchte Siedlung. Hier haben über die Jahrhunderte Siedler gegen Indianer, Texaner gegen Mexikaner, Konföderierte gegen Yankees gekämpft, und nachdem zufällig in der Wüste ein verwitterter Sheriffstern neben den Gebeinen eines Menschen ausgegraben wird, reißen alte Wunden wieder auf.

Jeder im Ort weiß, daß dies nur die Knochen von Charly Wade sein können, dem korrupten und gewalttätigen Sheriff, der 1957 nach einem Streit mit seinem Deputy Buddy Deeds über Nacht spurlos verschwand. Der junge Hilfs-Sheriff wurde als Befreier von dem Tyrannen gefeiert, selber zum Polizei-Chef gewählt und eine für ihren Gerechtigkeitssinn geehrte, fast mystische Heldenfigur des Ortes. Aber jetzt, fast 40 Jahre später, hat sein Sohn Sam diesen Posten inne, und ein tiefer Groll treibt ihn dazu, nach Beweisen dafür zu suchen, daß sein Vater damals Sheriff Wade hinterrücks erschoß.

Die Aufklärung dieses Mordes bildet den Kern des Films, aber John Sayles bietet viel mehr als nur eine spannend erzählte Kriminalgeschichte. „Lone Star“öffnet sich schon nach wenigen Szenen zu einer atemberaubenden epischen Breite, denn in die Untersuchungen werden ganze Familien von anderen Charakteren verwickelt. In jedem dieser erzählerischen Nebenstränge finden sich Eltern im heillosen Streit mit ihren Kindern, und alle sind stur, selbstgerecht und voller Zorn in den Konflikten der Vergangenheit gefangen.

John Sayles ist einer der originellsten Filmemacher der USA und wohl einfach zu integer und intelligent, um in Hollywood Karriere zu machen. Seine kleinen, unabhängigen Produktionen sind fast immer Filme über Gruppen. So überrascht es hier nicht so sehr, wie souverän Sayles das Ensemble leitet und daß trotz der Vielzahl der Filmfiguren jede mit ihrer Geschichte und ihren Eigenheiten auf der Leinwand lebendig wird. Außergewöhnlich ist eher, daß mit Sheriff Wade eine Figur so heraussticht.

Aber eigentlich ist dieser „Lone Star“, dieser gnadenlose, brutale und zutiefst böse Westerner gar kein Mensch sondern die Inkarnation eines reinen Mythos. Er ist der einzige, von dem Sayles nichts erzählt, der nur auftaucht, die Menschen demütigt, verletzt oder tötet und wieder verschwindet. Ein wahrhaftiger Buhmann, der von Kris Kristofferson (in seiner ersten guten Rolle seit über zehn Jahren) so dämonisch und unnachgiebig verkörpert wird, daß man spürt, wie seine Präsenz auch Jahrzehnte nach seinem Tod noch die Atmosphäre des Ortes vergiftet.

Es braucht seine Zeit, bis man sich zurechtfindet in den verschiedenen familiären Verwicklungen und Erzählebenen des Films. Sayles entwickelt hier den Ehrgeiz, mit einer fast literarischen Komplexität zu inszenieren, und was zuerst wie ein kleiner Genrefilm im Westernkostüm daherkommt, entwickelt sich schnell zu dem kunstvoll gewebten Portrait einer vielschichtigen Gesellschaft, in der die Bedeutung von Rasse, Privilegien und Politik in jedem Detail deutlich wird. Das Überschreiten von Grenzen und das Abwerfen der Last der Vergangenheit sind die zenralen Motive von Sayles, der sie konsequent in allen Facetten des Films, bis hin zum visuellen Stil einsetzt.

Bei ihm werden die Rückblenden etwa nicht, wie sonst üblich, durch deutlich erkennbare Schnitte gekennzeichnet, sondern die Kamera schwenkt einfach in eine andere Richtung und damit in eine andere Zeit, die aber den gleichen Raum beansprucht.

Die Vergangenheit ist noch da, sagt Sayles, und nur wenn wir uns ihr stellen, verliert sie ihre Macht über uns. Wilfried Hippen

Cinema täglich um 21 Uhr