: Ein viertel Pfund Gezicktes, bitte
■ „Höchste Eisenbahn“für die „Missfits“und ältere Damen in den Kammerspielen
„Ach, ist das herrlich“, kreischt die dauergewellte Mittfünfzigerin im Parkett. Sie lacht Tränen. „Ich halt' das nicht mehr aus“, stöhnt sie und schnappt nach Luft.
„Ich halt' das nicht mehr aus“, zetert auch ihre Altersgenossin Betty (Stephanie Überall) mit wehleidigem Unterton oben auf der Bühne in den Kammerspielen. In Höchste Eisenbahn des Nürnberger Autors Fiszgerald Kusz fährt sie mit ihrer Schwester Emmy (Gerburg Jahnke) im Zug von Oberhausen nach Lindau in die Sommerfrische. Wichtige Stationen ihres Lebens ziehen noch einmal an ihnen vorbei – so wie die draußen vorbeisausende Landschaft. Bahnhöfe, Flüsse, Berge und ein Sonnenaufgang sind allerdings nur auf eine Leinwand gemalt, die Emmy und Betty mittels einer Handkurbel bewegen können.
Das von Katharina John liebevoll gebaute Bahnabteil ist Schauplatz einer schwesterlichen Haßliebe zwischen der zickig-zarten Betty, die ihre Seele mit allerlei Tropfen und Tinkturen glättet, und der patenten Emmy, die eine Käseklappstulle nach der anderen verzehrt. Seit vielen Jahrzehnten betreiben die beiden mißmutig das elterliche Lebensmittelgeschäft und schieben sich die Verantwortung für ihre ungelebten Träume gegenseitig in die Schuhe. Ohne Atemholen verbringen sie die Bahnfahrt damit, sich gegenseitig zu triezen, zu piesacken und auszutricksen. Als streitbares Kabarettistinnenduo Missfits haben sich Gerburg Jahnke und Stephanie Überall bisher einen Namen gemacht. Höchste Eisenbahn ist ihr erstes Theaterstück (Regie: Ulrich Waller). Doch die Balance zwischen komischen und dramatischen Elementen mag nicht recht gelingen – zu sehr überziehen sie die psychologisch stimmig konzipierten Charaktere mit ihrem kabarettistischen Talent, als daß einem das schwesterliche Duell über zwei verpatzte Leben unter die Haut gehen könnte. Nur einmal gewinnt das Stück an Dramatik, als bei einer Tunneldurchfahrt das Abteil stockdunkel wird und Emmy mit theatralischer Stimme verkündet, sie seien wie früher als Kinder im Luftschutzkeller verschüttet. Die völlig verängstigte Betty verkriecht sich unterm Sitz, aber Sekunden später ist der Spuk vorbei, und das vertraut-gehässige Spiel geht von vorne los.
Trotz aller liebevollen Details in der Ausstattung, dem Bühnenbild und den Kostümen plätschert Höchste Einsenbahn ohne rechten Höhepunkt von einem netten Einfall zum anderen. Vielleicht doch eher ein Stück für ältere Damen, die über sich selbst lachen können.
Karin Liebe
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