: Die Rückkehr der elektronischen Braut
Fortschritt durch Techno, Pop und Art: Das Aktionsforum Praterinsel in München zeigt mit „Haywire“ Koproduktionen aus den sechziger Jahren zwischen Robert Rauschenberg und dem Bell-Laboratories-Ingenieur Billy Klüver ■ Von Jochen Becker
„Im Mai 1965 [...] hatte ich bereits Dutzende von Künstlern durch die Bell Laboratories geführt. Doch ich hatte das Gefühl, daß unsere Bemühungen angesichts des experimentellen Wachstums der Technologie in den sechziger Jahren verzweifelt gering waren. Der Künstler war tatsächlich von diesem wichtigen Bereich der Gesellschaft ausgeschlossen.“ So beschreibt der kunstbesessene Bell-Mitarbeiter Billy Klüver im Rahmen der Münchner Rauschenberg-Ausstellung „Haywire“ das missionarische Streben, emanzipativ verstandene Kunstproduktion mit Kommunikationstechnologie zu verkoppeln. Gemeinsam mit dem Maler und Plastiker Robert Rauschenberg, dem Film- und Performancekünstler Bob Whitman und dem Bell-Ingenieur Fred Waldbauer gründete Klüver Ende 1966 das Organisationsbüro E.A.T. (Experiments in Art and Technology), um die künstlerischen Potentiale neuerer Technologie auszuschöpfen, hierfür Sponsoren zu finden und vor allem bastelwütige Ingenieure zu rekrutieren.
Vorausgegangen war das New Yorker Spektakel „9 Evening: Theatre and Engineering“ in einem innerstädtischen Militärdepot, bei dem zahlreiche Pop- und Performance-KünstlerInnen – darunter John Cage, Lucinda Childs, Öyvind Fahlström, Claes Oldenburg oder Yvonne Rainer – mit zumindest im Feuilleton weitgehend namenlos gebliebenen Ingenieuren der Bell Telephone Laboratories kooperierten. Die Techniker hatten dafür die zentrale Steuerungsanlage TEEM (Theatre Electronic Enviromental Modulator) entwickelt, die ihrerseits nur durch gerade auf den Markt gekommene Tyristoren möglich wurde: Mit „9 Evening“ erprobten „Kreative“, Ingenieure und die Industrie erstmals eine spektakulär aufgezogene strategische Allianz. Allerdings trieben ewige Wartezeiten, Pannen und konzeptioneller Leerlauf das größenwahnsinnige Projekt ins Chaos.
„Es wurde mir klar, daß Mathematik und Physik in der Tat die Vorbedingungen sind, in Zukunft Künstler zu werden“, beschrieb der ebenfalls teilnehmende Robert Rauschenberg seine Vision und sah in der Technologie sowohl ein neues Arbeitsmaterial als auch „zeitgenössische Natur“. Obgleich als Einzelgänger beschrieben, ging er früh schon Kooperationen ein, tanzte 1963 auf Rollschuhen mit einer Art Fallschirm auf dem Rücken durch den damals hippen New Yorker Performanceraum „Judson Church“ oder sorgte als Tourmanager für die Ausstattung der Merce Cunningham Dance Company. In diesem Zusammenhang sind die Kooperationen mit Technikern der Bell Laboratories, die sich in der Gründung des Medien- Kunst-Büros E.A.T. niederschlug, auch zu betrachten.
Nun sind einige jener technologisch bestückten Arbeiten der sechziger Jahre im Münchner „Aktionsforum Praterinsel“ wieder in Funktion zu sehen. Zunächst mußten diese teilweise drei Jahrzehnte nicht mehr gezeigten Stücke jedoch technisch überholt werden, wobei Billy Klüver als Künstlerfreund, Technikwart und Katalog- Autor wieder eine zentrale Rolle spielte und gemeinsam mit Rauschenberg die Ausstellung eröffnete. Sie nennt sich „Haywire“, was geschnürte Strohballen, aber auch eine mühsam zusammengehaltene Bruchbude meint. Das gastgebende Aktionsforum Praterinsel ist eine privatwirtschaftlich organisierte Veranstaltungsgesellschaft, die ihre Ausstellungen im Kellergewölbe frei finanziert. „Es gibt keine Tradition hinsichtlich des Umgangs mit solchen Werken; die meisten Kustoden befassen sich nur höchst widerwillig mit ,schmutziger Technik‘. In den meisten Fällen funktionieren die Werke entweder nur teilweise, oder sie stehen tot und stumm herum“, beschreibt Klüvers im Katalog den musealen Dämmerzustand von Techno-Kunst.
Doch auch in München war die fünfteilige Arbeit „Oracle“ (1965) mit interaktiv ansteuerbaren Radios im Sendersuchlauf „out of order“. Und so blieb den BesucherInnen nur die skulpturale Betrachtung einer wilden Mülldeponie mit Autotür, Zinkwanne, Fensterrahmen, Ofenrohr auf Rädern und Treppe, in die eben jene disfunktionale Klangelektronik integriert ist. Intakt waren die beiden Arbeiten „Revolver“ (1967) aus hintereinander gestaffelten und jeweils rotierenden Plexiglasscheiben. Dank verkabelter Bedienungskonsole, deren Design an die Sternstunden des Trash-Science- fictions erinnert, lassen sich die aufgedruckten Abbildungen (technische Zeichnungen, Tiere, Schrift, Alltagsobjekte) per Knopfdruck gegeneinander verschieben, auch farblich überlagern und remixen. Doch als Effekt verbraucht sich dies rasch.
Im Zentrum der Ausstellung gleich gegenüber dem Eingang steht die schrankwandgroße Arbeit „Soundings“. „Auf das neueste Werk von Rauschenberg reagierten die Leute mit unverhohlener Rüpelhaftigkeit. Sie singen, pfeifen, johlen, rufen und husten vor einer elf Meter breiten Spiegelwand und werden so Teil dieses Werks“, schrieb der Spiegel im Mai 1968 zur Köln-Premiere der interaktiven Arbeit, bei der mit Siebdruck applizierte und plastisch arrangierte Stühle nur auf Zuruf und abschnittsweise beleuchtet in Erscheinung treten.
Um damals das gesamte Frequenzband zu testen, wurden die weiblichen Museumsangestellten noch in der Nacht vor der Eröffnung extra aus dem Bett getrommelt. Das anschließend geplante Gastspiel in Paris fiel wegen Straßenunruhen aus. „Soundings“ wandert wieder zurück nach New York, wird 1970 vom Schokoladenfabrikanten Peter Ludwig gekauft, 1976 in dessen Kölner Museum integriert, ist seit 1986 sicherheitstechnisch unbrauchbar und wurde erst jetzt wieder aus dem Depot hervorgeholt und durch Klüver generalüberholt.
Die Ausstellung wirbt mit der Abbildung von „Soundings“, doch die erstmals in Europa gezeigten Licht-Bild-Objekte aus der Serie „Carnal Clocks“ („Fleisch-Uhren“, 1969) sind die eigentliche Attraktion. Neun in Blickhöhe aufgeständerte Leuchtkästen tragen ein quiltartiges, rückwärtig von zwei Lichtreihen beleuchtetes Bildraster. Allerdings leuchten alle Lampen nur um 12 und 24 Uhr zugleich, so daß am Wochenende die Öffnungszeiten bis nach Mitternacht verschoben wurden.
Diese uhrwerkgetriebene Systematik ist jedoch ebenso schwer auszumachen wie die Motive, die auf dem bräunlichen und die BesucherInnen widerspiegelnden Plexiglas aufgetragen sind. Rauschenberg benutzte hierbei ein begrenztes Set von Drucksieben, die neben Rücken und Gliedmaßen auch fotografische Nah- bis Detailaufnahmen von „private parts“ (Arsch, Genitalien, Brüsten), sexuell aufgeladene Abbildungen von Blüten, Büffeln oder Schildkröten und Dingen wie Hydranten oder Kloschüsseln zeigen. In dieser vergleichsweise drastischen Motivik mag auch der Grund liegen, warum „Carnal Clocks“ als „schwarze Schafe einer Familie von mechanisierten, elektronischen Skulpturen“ beinahe dreißig Jahre in der Versenkung verschwanden, wie Jan Avgikos vor kurzem in Sculpture schrieb. Doch trotz der expliziten Details erscheint die „grafische Beschaffenheit“ (Avgikos) der Körperfragmente eigenartig unscharf.
Zur gleichen Zeit wie „Carnal Clocks“ entwickelte sich mit den Magazinen Screw und Kiss eine neue Form der coolen Pornographie. Der Sixties-Glaube an freie Liebe, offene Gesellschaft und hippiehaftes „Zurück zur Natur“ wandelte sich zum mechanischen Akt sexueller Befriedigung. Das Pop- art-Begehren nach gesellschaftlichem Einklang war der Versuch einer Auflösung von High & Low durch Grenzöffnung zwischen Hochkultur, Wissenschaft und Warenwelt, verkoppelt mit technologisch motiviertem Fortschrittsglauben. Anhand der elektro-mechanischen Arbeiten von Rauschenberg läßt sich die eigenartige Wechselwirkung zwischen entromantisiertem Sex und romantisierter Technologie als „zeitgenössischer Natur“ nachzeichnen. „Ich war in der Instandsetzung tätig“, beschreibt Rauschenberg seinen traumatischen Sanitätsdienst als Marinesoldat im Zweiten Weltkrieg. „Carnal Clocks“ ist nicht zuletzt ein Produkt des Vietnamkrieges, bei der sexual aufgeladene High-Tech- Waffen und body count, napalmverbrannte Hautlappen und Leuchtspurmunition das Fernsehbild prägten.
Vielleicht schenkt die herbstliche Rauschenberg-Retrospektive des New Yorker Guggenheim- Museums den Sixties-Kollaborationen zwischen Kunst, Industrie und Warenwelt größere Aufmerksamkeit. Denn seither durchdringen sowohl technologische Abhängigkeiten als auch merkantile Interessen die Lebensbereiche weit intensiver. Erste Rekonstruktionsversuche finden sich in München.
Bis 19. Mai, Aktionsforum Praterinsel, München. Der Katalog, Hatje-Verlag, kostet 48 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen