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Europas Behinderte fordern die EU heraus

■ Berliner Konferenz des Euro-Netzwerkes „Selbstbestimmt Leben“ will Antidiskriminierungsklausel im EG-Vertrag

Berlin (taz) – Im Fahrstuhl wird die Sache schwierig: Wie soll ein Sehbehinderter das richtige Stockwerk finden, wenn der Wahlknopf nicht auch fühlbar die Etage anzeigt? Der Blinde landet vielleicht im Keller, möglicherweise im Penthouse. Sein Ziel erreicht er nicht.

In Berlin trafen sich am Wochenende Behindertenorganisationen aus ganz Europa, um gegen ihre alltägliche Benachteiligung zu kämpfen. Unter dem Dach von ENIL (European Network of Independent Living) haben die Initiativen ein zentrales Ziel: Daß im Juni bei der Amsterdamer Nachfolgekonferenz des Maastricht- Abkommens eine Antidiskriminierungsklausel bindende europäische Bestimmung wird. „In den europäischen Verträgen sind wir nicht erwähnt“, kritisierte der ENIL-Vorsitzende, der Brite John Evans: „Es scheint, als existierten wir überhaupt nicht.“

Evans und seine Mitstreiter aus neun Ländern forderten, das unwürdige Gezerre um die Erwähnung Behinderter in den Gründungsdokumenten der Europäischen Gemeinschaft endlich zu beenden. Das Europäische Parlament und die Brüsseler Kommission sind für eine Antidiskriminierungsklausel. Aber die Mitgliedsstaaten verhalten sich halbherzig. Deutschland etwa votiert dafür, „ein allgemeines Diskriminierungsverbot“ im Maastricht-Abkommen festzuschreiben. Damit wäre nicht viel gewonnen. Denn konkrete Handlungsaufträge für die EU-Kommission, der Diskriminierung Behinderter aktiv entgegenzuwirken, ergäben sich erst, wenn die Behinderten in das Gründungsdokument aufgenommen werden, den EG-Vertrag. Dafür sieht die Bundesregierung „keinen Bedarf“, so das Auswärtige Amt.

Dabei ist die Situation Querschnittsgelähmter, Blinder und anderer Schwerbehinderter in der alten Welt schwierig. Antidiskriminierungsgesetze gibt es in Europa kaum. Aber der alltägliche Aufwand ist immens, öffentliche Gebäude befahren zu können oder einen Job zu erhalten. In Deutschland, wo über sechs Millionen Menschen den anerkannten Status eines Schwerbehinderten haben, ist es noch heute möglich, Rollstuhlfahrer aus Gasthäusern wieder hinauszukomplimentieren – weil ein „Normaler“ sich belästigt fühlen könnte. „In den USA, in Kanada und Australien haben Antidiskriminierungsgesetze enorme Auswirkungen auf das gesellschaftliche Bild und den Alltag Behinderter. Warum ist das in Europa nicht möglich?“ fragt ENIL- Vorsitzender John Evans. Uwe Frevert von der deutschen Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben“ ergänzt: „Sobald mit öffentlichen Geldern gebaut wird, müssen wir berücksichtigt werden. Gebäude müssen zugänglich sein.“

Die ENIL-Konferenz befaßte sich auch mit dem Problem, daß sich Behinderte von allerlei Experten fürsorglich belagert fühlen. Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter würden ihr Leben nicht nur erleichtern, sondern auch kontrollieren. „Wir sind die Experten“, begründete John Evans den Versuch, sich in Selbsthilfegruppen zusammenzutun. Statt der üblichen Pflege verlangen die Behinderten eine „persönliche Assistenz“. Was das ist, verdeutlicht ein ENIL-Grundsatzpapier: Persönliche Assistenz bedeutet, daß der Behinderte und nicht der Pfleger der Boß ist. Christian Füller

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