: Statt der Ärzte müssen die Kranken bluten
Das Solidarprinzip ist in Gefahr: Die Regierungskoalition hat massive Erhöhungen der Zuzahlungen für Medikamente und Krankenhausaufenthalte beschlossen. Von einer wirklichen „Gesundheitsreform“ kann keine Rede sein ■ Von Leif Allendorf
Beinahe wäre „Gesundheitsreform“ das Unwort des Jahres 1996 geworden. Der Begriff kam in die engere Auswahl und wurde erst durch das Wort „Rentnerschwemme“ aus dem Rennen geworfen. Auch wenn Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) diese Schmach erspart blieb – die Reformierung des Gesundheitswesens ist gescheitert.
Veränderungen sind gleichzeitig unvermeidlich wie auch undurchführbar. Im Kräftedreieck von Krankenkassen, Ärzteschaft und Politik (mit der Lobby der pharmazeutischen Industrie im Nacken) hat jede Seite ihre Interessen zu verteidigen und blockiert die beiden anderen.
Erstens die Politik. Seit über einem Jahr nimmt das Gesundheitsministerium nur noch Gesetzesvorhaben in Angriff, die am Bundesrat vorbei allein durch den Bundestag verabschiedet werden können. Im Gegensatz zu den „Zustimmungsgesetzen“ wie der Steuer- oder Rentenreform, die eine Mehrheit der oppositionsgeführten Länderkammer verhindern kann, benötigt das „Einspruchsgesetz“ Gesundheitsreform nur die sogenannte „Kanzlermehrheit“ im Bundestag (337 von 672 Stimmen). Mit ihr wird der Bundestag voraussichtlich am 12. Juni das Votum des Bundesrats gegen die 3. Stufe der Reform zurückweisen. Doch was dann Mitte des Jahres in Kraft treten soll, ist bestenfalls ein Reförmchen, keine Reform.
Zweitens sind da die Ärzte. Deren Ausgaben hatte das Ministerium im vergangenen Jahr mit einer Kostenschranke begrenzen wollen. Doch die sogenannte Budgetierung hatte keinen Erfolg. Um durchschnittlich 80.000 Mark pro Kopf überzogen beispielsweise die Mediziner in Brandenburg und Nordbaden ihr Limit. Gegen Rückzahlungsforderungen werden sie – vermutlich erfolgreich – klagen. An die Stelle des Budgets treten nun „Richtgrößen“, das sind nach Arztgruppen ausgerichtete Beträge, die bis zu 25 Prozent überzogen werden können, ohne daß dem Arzt mehr als formale Nachfragen drohen.
Damit wandert der schwarze Peter zum dritten Beteiligten: Den Krankenkassen bleibt nichts anderes übrig, als ihren Versicherten die zu erwartenden Kostensteigerungen von etwa zehn Prozent aufzubürden. Christina Tophoven, Sprecherin der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), fürchtet um den Bestand des solidarischen Systems.
Die AOK schlug daher vor, die Zuzahlungen für die Arzneimittel zu staffeln. Notwendige und unverzichtbare Arzneimittel sollten die Patienten ohne Eigenbeteiligung erhalten. Für gezielte und sinnvolle Heilmethoden sollten sie bis zu zehn Prozent, höchstens aber zehn Mark pro Medikament beitragen. Bei entbehrlichen oder gar umstrittenen Medikamenten sei den Versicherten dann jedoch eine Beteiligung von 50 bis 100 Prozent zumutbar. Doch eine solche Staffelung der Zuzahlungen sehen die Pläne des Gesundheitsministers Seehofer nicht vor.
Seit Jahresbeginn wird statt dessen darum gerungen, auf welche Art die Patienten und Kassenmitglieder die Mehrkosten tragen sollen. Höhere Zuzahlungen auf Medikamente oder Erhöhung der monatlichen Beitragssätze? Sowohl als auch, bestimmt die dritte Stufe der Gesundheitsreform, auf die sich die Regierungskoalition schließlich einigte. Jede Erhöhung des Beitragssatzes der Kassen um 0,1 Prozent ist automatisch mit einer Erhöhung der Zuzahlung um eine Mark gekoppelt (1. Neuordnungsgesetz). Gleichzeitig sollen die Zuzahlungen für Medikamente und Krankenhausaufenthalte allgemein um fünf Mark beziehungsweise fünf Prozent erhöht werden, sieht das 2. Neuordnungsgesetz vor.
Erträglich gemacht werden soll diese Regelung mit dem Hinweis, daß alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Die unerschrockenen „Tabubrecher“ und Lobbyisten der FDP hatten mit Verweis auf die hohen Lohnnebenkosten in Deutschland gar das Solidarprinzip in Frage gestellt. Warum, so die Liberalen, sollen auch weiterhin Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich die Last der Versicherungsbeiträge teilen? Mit dem Ausruf: „Wir müssen 100 Jahre Sozialversicherung überwinden“, probte Jürgen Möllemann den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen. So konnte es der Arbeitnehmerflügel der CDU noch als Sieg feiern, daß Seehofer sich statt dessen für die massiven Erhöhungen der Zuzahlungen entschied.
Daß jede Beitragserhöhung noch mit mehr Geld für jede Pillenschachtel verbunden ist, bringt die Versicherten natürlich gegen die Krankenkassen auf. Zehn Ersatzkassen hatten am 10. März eine Beitragserhöhung um ein halbes Prozent beantragt, weil der 11. März Stichtag der neuen Regelung war. Das zuständige Bundesversicherungsamt bezeichnete es aber als „zwecklos“, Erhöhungen am Vortag der Bestimmung anzukündigen, da die Bearbeitung der Anträge mindestens eine Woche dauere. Die Kassen drohen nun eine Klage gegen den Beschluß an. Scheitern sie damit, bedeutet das: Fünf Mark mehr für jede Packung Kopfschmerztabletten.
Ursprünglich sollte die Koppelung von Beitragssatz- und Zuzahlungserhöhung schon rückwirkend ab dem 8. Oktober vergangenen Jahres gelten. Jede Erhöhung nach diesem Datum sollte automatisch Erhöhungen der Zuzahlungen bedeuten. Dies hätte auch die Allgemeine Ortskrankenkasse Bayern getroffen, die zum ihre Sätze zum 1. Januar 1997 um 0,9 Prozent erhöht hatte. Auf Drängen seiner CSU-Parteifreunde, so der Vorwurf von Vertretern der Krankenkassen, verlegte Horst Seehofer den Stichtag um ein halbes Jahr. Nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden der Ersatzkassenverbände, Herbert Rebscher, „erkaufte sich Seehofer mit dieser Terminverschiebung die Zustimmung Bayerns zum 1. Neuordnungsgesetz im Bundesrat.“
Tatsächlich wurden damit all die anderen Krankenkassen bestraft, die sich bis dahin mit Beitragserhöhungen zurückgehalten hatten. Nun müssen auch sie ihren Mitgliedern durch die unabwendbaren Erhöhungen der Kassenbeiträge größere Zuzahlungen zumuten.
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