: Schöne neue Welt der Gewalt
Überall geile Undercoveragenten, pizzabackende Kinderschänder und russische Mafiosi: Wie realistisch sind Kriminalromane? In Großbritannien sind sie nicht besser als anderswo, aber dort gibt es wenigstens eine Debatte ■ Von Thomas Wörtche
Marcel Berlins, Crime-fiction- Kritiker der London Times, zudem gelernter Jurist und rechtspolitischer Kolumnist des Guardian, hielt im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Crime & Punishment“ in der Londoner Royal Festival Hall jüngst eine bemerkenswerte Rede. Die Kriminalliteratur, so wetterte Berlins, sei am Ende. Nicht kommerziell, aber ästhetisch. Die Verkriminalisierung von allem und jedem, all die hunderttausend Thriller und Krimis und Mysteries in Film und Fernsehen und die elende Blockbuster-Produktion auf dem Buchmarkt, die krampfhaft jedes Thema als „Thriller“ inszenieren müssen, um auf gute Verkaufszahlen zu kommen, haben die Figurenkonstellationen und die Handlungslinien von Crime-fiction bis ins letzte Winkelchen des Überdrehten ausgeschöpft und leergepumpt.
Die Phänomenologie von Marcel Berlins ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Jeder noch so kümmerliche Whodunnit wird flugs zu einem ernsthaften Diskurs „about“ erklärt: über Gewalt, über Inzest und Kinderschändung, über Katzen und über Gott und die Welt. Alle positiven Figuren haben ornamentale Macken und Spleens, und alle Bösen sind monströs und kannibalisch. Sie treten nach Trends und Wellen sortiert auf und verschwinden wieder lautlos im Orkus des Belanglosen. Formula- fiction am Fließband, für jedes Bedürfnis und für jede Zielgruppe.
Die britische Kriminalliteratur, so Berlins' Philippika weiter, sei so besessen von den diversen Formeln (ob „hard-boiled“ oder „cozy“), daß sie multimedial flächendeckend eine Scheinwelt um Phänomene wie Gewalt und Verbrechen errichtet, die sich durch schlichte Beharrlichkeit in den Köpfen der Menschen festzusetzen beginnt. Das liegt laut Berlins daran, daß sich die Produzenten dieses neuen Eskapismus einen feuchten Dreck darum scheren, wie die angeblich beschriebenen Realien wirklich aussehen. In den Köpfen der Brits wimmelt es von Rechtsverfahren, die aus amerikanischen Filmen abgekupfert sind und auf der Insel nicht existieren, von New-Scotland-Yard-Pärchen, die in der Provinz Verbrecher jagen (was sie nach Recht und Gesetz nicht dürfen) und anderen kruden Märlein mehr.
Solche Crime-fiction liefert nicht nur ein hochideologisiertes Zerrbild des gesellschaftlichen Backgrounds, sie nimmt sich auch jeder künstlerischen Möglichkeit, mit dem Hier und Jetzt ernsthaft literarisch umzugehen. Kriminalromane dieser Art sind, egal welchen Anspruch sie für ihre Formelvariante jeweils anmelden, zu „Lore“- Heftchen geworden.
Lassen wir Berlins' Rundschlag einen Moment so stehen und schauen nach Deutschland. Man ersetze die durch Kent stolpernden Scotland-Yard-Leutchen durch Berliner Staatsanwälte oder knackige Kommissarinnen, die im Alleingang durch die Straßen irren, in denen – wer sonst? – die Russenmafia mit – was sonst? – dem Verticken minderjähriger Mädels beschäftigt ist, die ihrem kinderschänderischen Vater, einem schutzgeldzahlenden Pizzabäcker in Polen, entlaufen und vietnamesischen Umweltgangstern in die Hände gefallen sind, welche sofort von geilen Undercoveragenten hopsgenommen würden, wenn die nicht gerade vom BKA, das von Ex-Stasis unterwandert ist, daran gehindert würden – um nur die Wochenration deutscher Fernsehkrimis und die Monatsproduktion deutscher Autoren zusammenzufassen. Falls letztere nicht gerade damit beschäftigt sind, hundert Jahre Kriminalliteratur auszuschlachten und daraus, falsch verstanden, postmoderne „Pastiche- Grimmis“ zu schustern. Oder so. Weil Berlins die amerikanische Übermacht auf dem Buchmarkt gleich noch mitgeißelt, herrscht also überall das gleiche Elend?
Tu felix Britannia – denn dort gibt es wenigstens ansatzweise eine Diskussionskultur. Marcel Berlins' Brandrede war auch die Folge eines Streits, der vor mehr als einem Jahr begonnen hatte. Es ging dabei nicht etwa um einen Sturm im Wasserglas (wie eine Notiz im Spiegel nahelegte, die in der SZ zu einem komplett desinformierenden Artikel aufgeblasen wurde), sondern um einen (kultur-)politischen Eklat: P.D. James, die nicht nur eine nette, alte Dame ist, sondern eine nicht umsonst geadelte, beinharte und extrem einflußreiche Literaturpolitikerin mit vollthatcheristischen Konzepten, hatte schlichtweg den „unteren“ Klassen die Fähigkeit abgesprochen, moralische Entscheidungen treffen zu können. Deswegen könne es auch keine gute Kriminalliteratur geben, die in solchen Milieus spielt.
„Quatsch“, konterte daraufhin Julian Rathbone (mit 60 Jahren und zwei Booker-Prinze-Nominierungen nicht gerade ein erfolgloser, junger Futterneider), es gebe eine sinnvolle Tradition des kritischen Realismus, von Honoré de Balzac über Eric Ambler bis John Harvey, die Realität in vorzügliche Prosa verwandeln kann, und gerade der Thatcherismus und seine verheerenden Folgen böten Stoff in Hülle und Fülle.
Die Diskussion war im Gange und ist es bis heute, bis zu Marcel Berlins' Attacke. P.D. James hatte immerhin fruchtbar polarisiert, Positionen kristallisierten sich. „A little bit of fun“ zum Beispiel versprach Colin Dexter (P.-D.-James- Unterstützer und Auflagenmillionär von abstrusen, an den Haaren herbeigezogenen Histörchen aus dem sozialen Vakuum) sich selbst und seinen Lesern, dürfe schon sein, wenn man mit Leichen hantiere. „A bit of fun“ sei ja wohl frivol, schoß Rathbone zurück. Komik, wenn es um surreale Effekte oder um Satire gehe, sei dringend nötig, aber Leichen für gelangweilte Leute in die Gegend zu legen, doch ein bißchen blöde.
Berlins' Rede traf auf ein durchaus virulentes Problem. Die britische Kriminalliteratur ist an einem Punkt angekommen, an dem einerseits das Muster „Häkelkrimi“ endgültig öde, verlogen und reaktionär geworden ist. Andererseits überzeugt die als „amerikanisiert“ verstandene, auf leeren Schock und Thrill angelegte hard-boiled- Schule der vierten Generation angesichts des Bedürfnisses vieler britischer Autoren und Autorinnen nach künstlerischer Bearbeitung ihrer spezifischen Realität auch nicht so recht. Liza Cody, eine der klügsten Autorinnen der „Realismus“-Fraktion, benannte denn auch den entscheidenden Punkt: Es müsse darum gehen, künstlerisch funktionierende Sprachen zu entwickeln, mit denen man literarisch mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten umgehen kann, ohne Sozialkitsch oder Betroffenheitskleister zu liefern.
Tu felix Britannia again: Neben den schon genannten Rathbone, McDermid und Cody hat Großbritannien in den letzten Jahren eine Riege solider bis sehr guter Schriftsteller hervorgebracht, die, alle im Zuge des Anti-Thatch-Writings, über ihren dezidierten politischen Standpunkten und dem genauen Hinsehen und Beschreiben britischer Verhältnisse nicht vergessen haben, daß die Rede von „Literatur“ ist. Und daß Literatur die ästhetische Organisation von Texten meint. Leute wie John Harvey, Charles Higson, Mike Philipps, Helen Zahavi, Ian Rankin, Ian Hanks, Denise Danks, Reginald Hill oder Michael Dibdin (die singuläre Erscheinung Derek Raymond/Robin Cook gehört in diesen Zusammenhang und gleichzeitig nicht) bilden, bei allen Unterschieden ihrer individuellen Konzepte, einen lockeren Produktions- (und manchmal auch Kommunikations-)Verband, der Berlins' Generalkritik doch relativiert. Mike Philipps, der schwarze Autor aus Guayana, gab auch sofort Widerworte: Berlins habe zwar in vielem recht, sehe aber nur einen bestimmten Ausschnitt. Die Vielfalt und die Potentiale von Crime-fiction gäben vielmehr schönsten Anlaß zur Hoffnung.
Bemerkenswert an der ganzen Debatte ist nicht nur, daß sie überhaupt stattfindet, sondern daß das Politikum „Thatcherismus und die Folgen“ als eine Art Prüfstein für ästhetische Entwicklungen funktioniert. Ästhetik und Politik haben miteinander zu tun. Und zwar wesentlich, wenn dieser Gemeinplatz hier erlaubt ist.
Und im fünfzehnten Jahr der Kohlera? Debatten und Auseinandersetzungen unter deutschen Kriminalschriftstellern, gar öffentlich und gar von intellektueller Substanz, sind nirgends zu sehen. Von den berühmten Ausnahmen abgesehen, klumpt die Regel in Grüppchen der Mittelmäßigen zusammen oder verbeißt die Konkurrenz, gefällt sich in der Feier des „deutschen Krimis“, schielt scheel auf ausländische Erfolge, nimmt die mangelnde Feuilletonresonanz übel oder schreibt so schlecht, daß der TV-Auftrag nicht ausbleiben kann. Die Qualität von „Cracker“ wird ja auch nicht erwartet.
Da bedeutet es fast schon einen Hoffnungsschimmer, wenn der Berlin-Crime-Autor Frank Goyke drei Postulate an Kriminalromane formuliert: Sie seien a) immer auch „Gesellschaftsroman“, b) nicht unbedingt als „Stück Literatur“ zu verstehen, sondern seien irgend etwas anderes, und c) die Lust an ihnen sei „die Lust am Außerordentlichen“. Das ist zwar arg pauschal, Goykes Begründungen sind teilweise secondhand, am tatsächlichen Stand der Entwicklung gemessen uninformiert und wenig plausibel, aber als Gesprächsangebot an Kollegen sind die „drei Notizzettel“ immerhin bemerkenswert. Fragt sich nur, bei wem sie Resonanz finden sollen.
Frank Goyke: „In ihrem Verbrechen sollt Ihr Euch erkennen. Drei Notizzettel zum Kriminalroman“. Beim Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin, erhältlich
Alle anderen Statements und Kommentare stammen aus Gesprächen, die der Verfasser mit den Autoren geführt hat
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