: Hysterie nach Aktion in Venedig
Während die Bürger die Besetzung des Glockenturms eher heiter aufnehmen, ziehen Presse und Politiker Parallelen zum Terrorismus ■ Aus Venedig Werner Raith
Eigentlich konnten die staatstragenden Parteien und ihre besorgt dreinblickenden Führer zufrieden sein. Nur gute acht Stunden nach der nächtlichen Besetzung des Glockenturms auf der Piazza San Marco in Venedig waren am Freitag Recht und Ordnung wiederhergestellt, war der zunächst als furchterregender Panzerwagen geschilderte, mit Blechplatten und Pappmaché aufgemotzte 12-Tonnen-Laster sichergestellt, das achtköpfige, mit einem Gewehr bewaffnete Kommando, das im Namen einer bisher unbekannten Gruppe „Veneta Serenissima Repubblica“ gehandelt haben will, verhaftet. Mittlerweile sitzt auch ein neunter Mann hinter Gittern, der als „Gehirn“ der Aktion gilt.
Doch so recht kommt keine Freude auf. Das Problem liegt darin, daß keiner so genau weiß, was man mit dem Vorgang anfangen soll – und wie gefährlich die Burschen nun wirklich sind, die da nächtens das Gaudium inszeniert hatten. Wild entschlossen sind lediglich die Politiker, die sich in ihren Kommentaren an Law-and- order-Parolen zu überbieten versuchen – zumal gestern die zweite Runde der italienischen Kommunalwahlen stattfand.
Die Zeitungen berichten seitenweise über den Vorfall. Die meisten ziehen Parallelen zum Terrorismus der 70er Jahre: „Wie zu Beginn der Roten Brigaden“, lautet der Titel eines Kommentars von Giorgio Bocca, Experte auf diesem Gebiet, in la Repubblica. Auch die Politiker überbieten sich mit harten Worten: „Unnachsichtige Bestrafung“ fordert Verteidigungsminister Beniamino Andreatta (der froh ist, daß die Angelegenheit von seinen Blamagen bei der Albanien-Mission ablenkt), Innenminister Giorgio Napoletano wünscht sich, daß die Sache „sehr ernst genommen“ wird, und Regierungschef Prodi hofft darauf, daß „nun nicht Stammtisch-Nachfolgetäter“ auftreten.
Selbst der ansonsten dauernd von Sezession redende Führer der Lega Nord, Umberto Bossi, wütet gegen „diesen völlig falschen Ansatz des Separatismus“ – wobei Nörgler bei ihm so etwas wie Eifersucht heraushören wollen, daß dem großen Kapo der Abspaltung derlei nicht selbst eingefallen ist. Immerhin hatte er nach der Niederlage in Mailand bei der ersten Runde der Kommunalwahlen vor zwei Wochen davon gesprochen, daß die Lega nun „in die Berge gehen“, also den Partisanenkampf gegen die verhaßte Regierung in Rom aufnehmen müsse. Für alle Fälle hat Bossi die Aktion zu einer „typischen Aktion der Geheimdienste Roms“ erklärt, die nur das eine Ziel hätten, die politischen Ziele der Lega zu diskreditieren.
Klaren Kopf behalten hat offenbar nur Venedigs Bürgermeister Massimo Cacciari: Er hatte mit den Besetzern telefoniert und ihnen klargemacht, daß sie „das Ziel ihrer Aktion, nämlich weltweite Aufmerksamkeit, schon erreicht haben und deshalb ruhig herunterkommen könnten“ – Grund vielleicht dafür, daß die Besetzer den Carabinieri keinen Widerstand entgegengesetzt haben. Dennoch warnt auch Cacciari: „Wenn die Verfassungsreform in Rom nicht schneller vorankommt als bisher und ein echter Föderalismus die erregten Gemüter in den Regionen beruhigt, könnten Folgeaktionen wirklich gefährlich werden.“
Die meisten Bürger von Venedig sehen die Sache eher von der heiteren Seite: „Ist ja nicht das erste Mal, daß irgendwelche Hitzköpfe den Turm besetzen“, sagt ein Kellner in der noblen Harry's Bar. In der Tat waren etwa 1910 schon mal Künstler hinaufgeklettert und hatten sich „als Protest gegen die venezianische Romantik“ dort verbarrikadiert. Selbst der Pornofilmer Tinto Brass rühmt sich nun, vor zwei Jahren die Piazza San Marco besetzt zu haben und dafür angezeigt worden zu sein: „Ich allerdings hatte ein paar blitzsaubere Mädels, natürlich weitgehend nackt, dabei, da ist die Polizei nicht mit vermummten Scharfschützen gekommen, sondern mit glänzenden Augen.“
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