Wenn Tschernobyl vom Himmel fällt

■ Die Nasa will Forschungssonde mit 23 Kilo Plutonium ins All schießen. Experten warnen vor einer Katastrophe

Berlin (taz) – 23 Kilo hochgiftiges Plutonium-238 will im Oktober die Nasa mit einer Titan-IV-Rakete ins All schießen. Das Plutonium dient als Stromversorgung für die Saturnsonde Cassini. Für den Darmstädter Kernphysiker Martin Kalinowski könnte ein Störfall bei diesem riskanten Vorhaben Folgen wie die Katastrophe von Tschernobyl nach sich ziehen. So bewertet der Experte die Risikostudien der Nasa.

In einer Nachbesserung ihrer Studie versucht die Nasa der Kritik an ihrer Saturnsonde Cassini nun den Schub zu nehmen. Mitglieder der in Florida ansässigen Koalition für Frieden und Gerechtigkeit (FCPJ) wollen daher zum geplanten Start im Oktober die Nasa-Startrampe in Cape Canaveral besetzen. Sie verlangen, die Sonde mit Sonnenenergie statt mit plutoniumhaltigen Batterien zu versorgen.

Noch nie wurde bei einer Weltraummission soviel Plutonium in den Himmel geschossen wie bei Cassini geplant. Und noch nie auf so riskante Weise: Denn um genügend Tempo für den Flug zum Saturn zu erhalten, umkreist die Sonde im August 1999 noch einmal die Erde und nutzt ihre Anziehungskraft, um Schwung zu holen. Kommt die Sonde dabei vom berechneten Kurs ab, könnte sie in der Atmosphäre verglühen – und mit ihr das Plutonium. Laut der ursprünglichen Risikostudie der Nasa von 1994 wären dabei in den folgenden 50 Jahren rund 2.300 Krebstote zu beklagen. Unter Kritik geraten, erneuerte die Nasa ihre Risikostudie: Nun ist nur noch von 120 Toten die Rede. „Verfeinerungen in der Unfallauswertung“, heißt es in der neuen Studie, seien die Ursache für die Korrektur – eine erstaunliche Begründung, schließlich erforscht die Nasa dieses Risiko schon seit zwölf Jahren.

Die Nasa behauptet, daß nur ein Teil der Plutoniumbatterien verglühen werde. Doch der Raumfahrttechniker Horst Poehler, der jahrelang im Kennedy Space Center im Auftrag der Nasa arbeitete, zweifelt an der vielbeschworenen Haltbarkeit des Iridiummantels um das Plutonium. „Erinnern sie sich an die alten Filme, in denen verrückte Wissenschaftler die Erde aufs Spiel setzen für ihre Forschung?“ fragt Poehler. „Diese Verrückten sind zur Nasa gewechselt.“

Die Wahrscheinlichkeit für einen Unfall beim Schwungholen gibt die Nasa unverändert mit 1 zu 1,3 Millionen an – das ist hundertmal wahrscheinlicher, als mit einem Los den Lotto-Jackpot zu knacken. Doch schon nach dem Challenger-Unglück mußte die Nasa zugeben, daß sie die Unfallwahrscheinlichkeit um den Faktor 1.000 zu niedrig angesetzt hatte.

Dabei gibt es Alternativen: Zwar wendet die Nasa richtig ein, daß nahe dem Saturn die Sonne zu schwach für herkömmliche Sonnensegel sei. Doch im Auftrag der Europäischen Raumfahrtbehörde (ESA) entwickelte die Solarfirma ASE besondere Zellen. „Grundsätzlich haben wir das Problem gelöst“, erklärt Gerhard Strobl, Projektleiter der ASE-Solarzellenentwicklung. Ströbels Zellen sind besonders effektiv unter den Bedingungen im tiefen All. „Wir könnten die Zellen liefern – kein Problem.“ Allerdings bräuchte Cassini für die Sonnensegel ein völlig neues Design – die Mission müßte verschoben werden.

Erst im November wurde der Weltöffentlichkeit drastisch bewußt, daß einige Weltraumsonden Plutonium an Bord tragen: Als die letzte Antriebsstufe der russische Sonde Mars 96 nicht zündete, stürzte sie nach 28stündigem Irrflug zurück zur Erde – mit 270 Gramm Plutonium an Bord. Mit 1 zu 450 gibt die Nasa die Wahrscheinlichkeit an, daß der Titan-IV-Start mißglückt. Dabei werde, versprechen die Nasa-Experten, das Plutonium ohne Gefahr für Menschen im Meer versinken. Kritiker bezweifeln auch das.

Matthias Urbach Siehe Seite 7