: Demontierte Helden demolieren
■ Das Abaton ehrt Michel Piccoli mit einer kleinen Werkschau voll fröhlicher Unverschämtheiten
Er hat ein Gesicht, das man sich nicht so leicht merken kann. Fus-selige Haare, die den großen Kopf ulkig umwolken und ein Augenpaar, das von ungebremster Virilität und unendlichem Selbstmitleid nur ein Wimpernschlag trennt. Und wenn man sich an Michel Piccoli als enthemmten Themroc in seiner Wohnhölle erinnert, dieses Triebwesen mit den zahnsteinfarbenen Haaren und dem Dauergrunzen, das nachts nach Polizisten für den heimischen Grill späht, dann kann man sich jeden weiteren Kannibalen-Film sparen. Denn so kompromißlos und heiter wird der anarchistische Film der 70er auch in seinen radikal-metaphorischen Splatterwerken nie wieder gegen das Establishment aufbegehren.
Der 72jährige Michel Piccoli, der vom Abaton mit einer kleinen Werkschau geehrt wird, war in seinen Filmen schon immer alt. Ein demontierter Held, der nur selten einen „natürlichen“Platz in der Gesellschaft findet. Wirklich unzivilisiert ist er selten. Meistens spiegelt sich in ihm die Befindlichkeit einer maroden Schicht, eben der diskrete Charme der Bourgeoisie. Seine an Sinn und Schönheit Knabbernden kommen nicht durch Exzesse, Ironie oder Tragödien zu Fall, sondern durch erschütternde Normalität.
In Jacques Rivettes Die schöne Querulantin (18.5., um 15.15 Uhr, 1. und 8. 6. um 11 Uhr) zerlegt Piccoli als Künstler kühl sein Modell (Emanuelle Béart). Auf der Suche nach der idealen Linie erzwingt er Posen am Rande des anatomisch Möglichen. Drei von vier Filmstunden dauert dieser Kampf, der am Ende keinen Gewinner, nur zwei Verlierer kennt, das Bild und seinen Maler und zwei Versehrte, die noch einmal davongekommen sind, das schöne Modell und die Frau des Malers.
Immer wieder sind Piccolis Themen die Identitätskrisen älterer Männer, die man selten ohne Weinflasche in der Hand, den ausgiebigen Speiseplan des Tages im Kopf und ohne schlecht versteckte Blicke auf wippende Blümchenkleider antrifft. All die Ergrauten, welche die sozialen Anforderungen nur zu gut und die emotionalen nur zu schlecht erfüllt haben.
So ist auch Piccolis Milou, den er in Louis Malles Eine Komödie im Mai (18.5. um 11 Uhr) gibt, einer, der nicht nur mit jedem Finger Flußkrebse angeln kann, sondern auch die, die ihn gerade interessieren. Milou, der nach dem Tod der Mutter versucht, Familie und Erinnerungen zusammenzuhalten, ist ein Patriarch, der am Ende eines historischen Abschnitts, im Mai '68, ein letztes Mal an seiner eigenen Kraft leiden muß. Noch einmal verbändelt er seine wüste Genußsucht mit den Lebens- und Liebesidealen der Studentenrevolte in Paris. Doch nur solange die Lust nichts kostet und nichts erschüttert. Denn Piccolis Leinwandgeschöpfe kämpfen nicht. Nicht für Frauen und schon gar nicht, um die Welt zu retten.
Nur einmal, und das auch nur mit Hilfe einer arg strapazierten Magie, läßt ihn Agnès Varda für die bunte Welt der Kinobilder gegen das Vergessen antreten. In 101 Nacht mimt er den hundertjährigen Monsieur Cinéma. Ein exzentrischer Greis, der sich eine junge Scheherezade zugelegt hat und sich als Mythomane des Kinos schlechthin gebärdet. Ungleich interessanter ist Enki Bilals Tykho Moon (19. und 20.5. um 22.45 Uhr, 21.5 um 17.30 Uhr), ein kühles Märchen vom ehemaligen Star der französischen Comic-Szene, in dem Piccoli den Diktator MacBee mimt, der mit donnerwolkigen Reden und galliger Ironie gegen den mysteriösen Gegenmonarchen Tykho Moon antritt.
Und hier ist sie wieder, die fröhliche Unverschämtheit, die wir spätestens seit Themroc an Michel Piccoli nicht mehr missen möchten. Oder seine freundliche Respektlosigkeit angesichts des Todes: Am Grab der Mutter quittiert er das „Mach den Mund zu, Großmama, da fällt sonst Erde rein!“der Enkelin mit einem ausgelassenen Lachen .
B irgit Glombitza
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