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Kultur bricht durch Windows 95

Selten war Meinungsführerschaft so unbedeutend wie heute. Was verraten die kulturpolitischen Entwürfe von Tony Blair und Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers? Ein Systemvergleich  ■ Von Harry Nutt

Erst kommt das Bilanzieren: „Heute sind bei uns“, rechnete Englands neuer Premier Tony Blair ausgesuchten Vertretern der britischen Film- und Fernsehindustrie vor, „bereits eine dreiviertel Million Menschen im kulturellen Sektor beschäftigt.“ Etwa 28 Milliarden britische Pfund fließen durch ausländische Touristen ins Land, die die vielfältige britische Kultur als Reisegrund angeben. Es geht nicht nur um Besichtigung. „Die Kultur füllt nicht allein unsere Kassen“, sagt Blair, „sie bereichert unser Leben.“ Der Sound, das weiß der ehemalige Bandleader der Ugly Rumours ganz genau, macht die Musik. Der Rest sind die bekannten drei Akkorde. Tony Blairs kulturpolitisches Programm besteht denn auch aus Gemeinplätzen wie diesen: „Kultur trägt wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen bei. Kunst und Bildung nähren einander.“ So muß denn auch niemand von New Labour eine Kulturrevolution befürchten; aber jeder Menge gute Stimmung – Revolution Number Nine.

Tony Blair hat gut reden. Der Kampf um kulturelle Hegemonien sind Gefechte von gestern. Zu keiner Zeit schien Meinungsführerschaft so unbedeutsam wie heute. Tony Blair kennt die passenden Vokabeln. „Kultur bricht durch die Fenster“ (vgl. Tagesspiegel vom 9. Mai 1997), lautet sein Credo, und das ist keineswegs als Bedrohung mißzuverstehen. Tony Blairs Kulturauffassung gleicht ein wenig dem Bildschirmschonprogramm „Flying Windows“ des Computerherstellers Microsoft. Die theoretisch aufgeladenen Begriffe von einst kehren als praktische Zustandsbeschreibungen zurück. Die englische Sprache sei ein Kronjuwel der internationalen Kulturindustrie, sagt Blair ohne jeden Hinweis darauf, kulturphilosophisch kontaminiert zu sein. Das ist die Dialektik der Aufklärung in rhetorischer Vollendung. Wenn Blair Kulturindustrie sagt, dann meint er es so: „Wir haben detaillierte Vorschläge ausgearbeitet, um jede Schule datentechnisch mit einem Superhighway zu vernetzen. Auch Kinder in Newcastle sollten auf Knopfdruck einen Schlüssel besitzen für die Schatzkammern des Victoria & Albert Museum oder der National Gallery.“ Es kommt auf die richtige Mischung an. Wer Technik und Bildung gut zusammenrührt, der wird heutzutage schon als Visionär gehandelt.

Diese Rolle wird hierzulande gern einer technokratischen Funktionselite zugeschrieben, als deren selbsternannter Vertreter Bildungsminister Jürgen Rüttgers gelten kann. In der Rolle des vorwärtsdrängenden Zukunftsministers sieht er sich am liebsten. Seine Vision einer Wissensgesellschaft, wird er nicht müde zu betonen, setzt auf Anschlußfähigkeit und Pragmatismus. Blair wie Rüttgers verkörpern einen neuen Politikertypus jenseits von Ideologien – und sie wollen es. Wenn Rüttgers bilanziert, sieht das so aus: „Ein westdeutscher Vierpersonenhaushalt mittleren Einkommens kauft pro Monat Kulturgüter im Wert von durchschnittlich 360 Mark, ein ostdeutscher etwas weniger. So kommen – über den Daumen gepeilt – pro Jahr rund 150 Milliarden zusammen.“ Kulturindustrie ist, was man zählen kann. Rüttgers wie Blair wissen allerdings, daß in Kunst und Kultur nicht nur monetäre Kräfte walten. Kunst kann mehr. So jedenfalls hat Rüttgers es in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Kunststück Zukunft“ (Die Zeit vom 14.März 1997) verfügt. Im 15. Jahrhundert erfand der florentinische Maler Masaccio die Zentralperspektive und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Architektur.

Eine umsichtig fabrizierte Kunst, so wünscht es sich der Minister, kann sinnvoll und ohne Reibungsverluste für höhere Staatsaufgaben eingesetzt werden. Statt dessen aber begegnet einem aus Dichtermund immer nur berufene Mauligkeit. Botho Strauß denunziert Kultur als Kloake, und für Hans Magnus Enzensberger sei sie nichts weiter als ein Schaumgebäck, das Kulturpolitiker nach Belieben vom Menüplan streichen, rügt Minister Rüttgers. Keine Zentralperspektive, nirgends. „Es ist nicht das erste und einzige Mal, daß Deutschlands Dichter und Denker staunend und resigniert vor den Herausforderungen der Zeit kapitulieren.“ Enzensberger, Strauß: setzen! Einer wie Rüttgers beläßt es nicht bei Rüffeln und Rügen. Nach dem Untergang des Sozialismus gilt es, die Trümmer linksliberaler Meinungsführerschaft zu beseitigen. „Die Barbarei zweier Weltkriege und eine kunstverachtende und -unterdrückende Diktatur haben in Deutschland kulturellen Kahlschlag betrieben. Das Wirtschaftswunder, der Geist der 68er und die sich daran anschließende Sozialliberalität haben den Kulturbegriff zur Beliebigkeit verkommen lassen. (...) Hilmar Hoffmanns sinnvoller Ansatz ,Kultur für alle‘ pervertierte zur sinnentleerten Parole, daß alles Kultur und jeder ein Künstler sei.“ Erweiterter Kulturbegriff essen Seele auf. Wieviel narzißtische Kränkung müssen Rüttgers und die Seinen erlitten haben, um eine Reihung von Hitler-Diktatur, Wirtschaftswunder, 68er Geist und Sozialliberalismus zustande zu bringen?

Wissenschaft und Technik sollen die Leitmedien der kulturellen Großwetterlage im neuen Jahrtausend sein; dazu die Weichen zu stellen, scheinen Tony Blair und Jürgen Rüttgers gleichermaßen bereit. Blair aus dem Gefühl heraus, einen historischen Wandel einzuleiten. Rüttgers mit dem Stimmungsdruck des Ressentiments. Der technokratische Fortschrittsgeist ist klassenkämpferisch grundiert. Der Engel der Geschichte, den Walter Benjamin nach einem Bild von Paul Klee beschrieb, kriegt die Flügel immer noch nicht zu.

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