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Tradizjon

Bei de richtige Schlösser gibt's das schon länger. Ich mein, daß se für den öffentlichen Verkehr freigegeben worden sind. Daß das Volk denn reinströmt für 30.- pro Person und sich beispielsweise das königliche Schlafzimmer anguckt. Wie bei de Schlösser von den verrückten Bayernkönig, die seinerzeit aus den Blut und den Schweiß vonne Landeskinder gebaut worden sind. Heute sind se dagegen de größte Einnahmequelle von den Freistaat. In' Hintern gebissen sind natürlich die Bundesländer oder Stadtstaaten, die keine skurriln Herrscher hatten, sondern bloß von nüchterne Kaufleute regiert wurden, die absolut kein' Sinn für Kunst hatten, sondern bloß mit ihre kalte Fischaugen geguckt habn, wo se ihrn Reibach machen konnten, zun Beispiel bei ihre eigene Altersversorgung. Trotzdem will de Hansestadt nu den bayrischen Muster nacheifern und de Wohnung von ihrn bedeutendsten Politiker auch zun Publikumsverkehr freigeben. „Ich finde“, sagte mein Stammkunde, Zahnarzt Dr. Raffler, „die Idee gar nicht so übel. Vor allem deshalb nicht, weil wir den absoluten Kontrast bieten: Statt eines längst verstorbenen wahnsinnigen Monarchen mit wallendem Haupthaar ein etwas dröger, ausgemusterter Kanzler mit straffem grauem Scheitel und grämlichen Gesichtszügen, der noch lebt.“– „Sie meinen doch wohl nicht unseren Altbundeskanzler Schmidt?“fragt Jungunternehmer Aschler, „ich weiß nicht, was an dessen Reihenhaus so besichtigenswert sein soll.“– „Da seien Sie man vorsichtig“, wirft nu Revierförster Noske ein, „davon mal abgesehen, daß man einen sehr demokratischen Eintrittspreis von 5.– bezahlt.“– „Ich habe 10.– bezahlen müssen“, ruft nu Junglürikerin Nele Hütlein, „dabei lebe ich von der Sozialhilfe!“– „Dann haben Sie 5.– Strafe drauflegen müssen, weil Sie Ihre Schuhe nicht abgetreten haben ...; aber lassen wir das mal, es hat auch etwas, wenn der Hausherr persönlich kassiert und die Führungen macht ...“Nu ist Revierförster Noske nicht mehr zu bremsen: „Ich habe die Führung schon dreimal mitgemacht, es ist immer wieder beeindruckend! Das eine Zimmer zum Beispiel, dessen Wände ganz und gar mit Photos bedeckt sind: der Kanzler mit Königin Elisabeth, der Kanzler mit Königin Beatrix, der Kanzler mit dem Klaviervirtuosen Clyderman, der Kanzler mit Marilyn Monroe ... da weht einen die Geschichte regelrecht an! Und am Ende der Führung spielt der Kanzler a. D. noch eigenhändig das Stück Für Elise von Beethoven auf seinem Kleinklavier.“Der Revierförster hat richtig glänzende Augen gekriegt. „Nee, sag, was du willst, an unsere hanseatische Tradizjon ist doch was dran. Bloß ein' Nachteil hat de Hamburger Besichtigung: Der Schmidt überweist das Eintrittsgeld nicht anne Stadtkasse, sondern behält das für sich ...“

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