: Vom Entstehen des Amselneides Von Fritz Eckenga
Ich schau' morgens um 7 Uhr aus dem Küchenfenster und sehe als erstes fette Amseln. Sie frühstücken im amselschulterhohen Gras meiner taufrischen Wiese. „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, mulmt es durch meinen außen noch kissenwarmen und innen wattig vernebelten Schädel. Wäre ich ein Vogel, ich müßte in dieser Frühform verhungern. Glücklicherweise wurden meine Lebensmittel von dienstbaren Geistern bereits für mich gefangen, getötet, bzw. hergestellt. Sie lagern frisch in praktischer Plastikverschalung im Drei-Sterne-Kühlschrank mit dem Öko-Siegel und heißen Jagdwurst, Katenrauchschinken und Rahmbutter. Etwa 8 Minuten braucht der gierigste Frühstücksvogel, um sechs kleinfingerlange Würmer aus der Krume zu zutzeln und sich in den Amselwanst zu würgen. Genauso lange wie meine Kaffeemaschine für die vier Tassen Hochlandbohne, mit denen ich hastig Schinken- und Wurstschnitten herunterspüle. Höchste Eile ist geboten, habe ich doch schon vor Wochen in einem Moment fataler Unkonzentriertheit das Angebot meines Dentisten angenommen, mir ein unbedeutendes Backenzahnproblem an diesem Morgen um 8 Uhr überbrücken zu lassen.
„Morgenstund hat Gold im Mund“, meldet sich ein weiteres Mal der schwach aktive und deshalb ausschließlich Uraltbestände herausrückende Sprichwortschatz. Wesentlich energischer dagegen plötzlich die Abteilung Magen/ Darm, die, den ungewohnt frühzeitigen Koffein- und jetzt auch Nikotinsäureanschlägen nachgebend, unverzügliche Entleerung beantragt. Ein kurzer Gedanke an Ablehnung durchzuckt den Kopf, wird aber umgehend verdrängt von der intergalaktisch peinlichen Vorstellung, das jetzt Verkniffene wenig später, nämlich unter Augen und Händen des schleifenden Zahnarztes und seiner hübschen Gehilfinnen wehr- und willenlos preiszugeben. Bereits jetzt 10 Minuten hinter meinem Zeitplan, wird aus höchster Eile unkontrollierte Hektik. Natürlich ist die Rolle Toilettenpapier abgelaufen. Runter in den Keller, mit einer Hand am Bund die Hose auf Halbmast halten, mit der anderen die vor Zahnarztbesuchen obligatorische Mundhygiene vollenden, das Zehnerpack Servus greifen – Halt! Eine Hand zuwenig! – Bürste mit satt Belag zwischen die Zähne klemmen und wacker wieder hoch in die Naßzelle. Rasch noch das zahnpastabesabberte Hemd wechseln – zu rasch – mittlerer Knopf am neuen reißt ab. Egal jetzt! Fünf vor acht! Schnell noch die Lebensmittel in den Kühlschrank stellen. Wer weiß, wie lange sich die Zahnarzttortur zieht, und nachher ist die Milch sauer. Die Milch!!!
Warum stelle ich das Porzellankännchen nicht wie immer auf die Glasscheibe über der Gemüseschale? Warum will ich sie diesmal auf die oberste, unterhalb des Kühlfachs angebrachte Leiste stellen? Warum auf diese etwa in fingerbreiten Abständen nebeneinander liegenden Plastikstangen, auf denen zierliche Porzellankännchen unweigerlich umkippen müssen? Ich weiß es nicht!
Zwei Stunden später stehe ich wieder in meiner Küche. Wie es wohl mittlerweile in meinem Kühlschrank aussieht? Ich will es nicht wissen. Matt richte ich den Blick aus dem Fenster. Die zahnlosen Amseln haben sich zum Mittagessen versammelt. Es gibt frische Regenwürmer. Ich beneide sie ein wenig.
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