: Stulle statt Schock
■ * Cannes zum Fünfzigsten - ein Fall für den melancholischen kleinen Hunger zwischendurch
Von Anja Seeliger
Am Sonntag abend wurde in Cannes die Goldene Palme zu gleichen Teilen an den japanischen Film „Unagi – Der Aal“ von Shohei Imamura und an „Der Geschmack der Kirsche“ von Abbas Kiarostami verliehen. Es ist eine Entscheidung für die Melancholie und gegen den Schock. Wie bei den meisten Wettbewerbsfilmen möchte man nicht ja und nicht nein dazu sagen. Der Schock – ist er nicht ein alter Hut? Ein allzu billiges Mittel, den Regisseur ins Gespräch zu bringen? Eine Anbiederung? Andererseits macht die Melancholie so müde.
Imamuras Film „Unagi“ beginnt mit einer Szene unendlich banalen Ehelebens: Eine hübsche junge Frau, adrett in eine Küchenschürze gewickelt, reicht ihrem Mann Takuro die Butterbrote, die er zum Angeln mitnehmen soll. Eigentlich will er die ganze Nacht fortbleiben, doch dann kommt er früher als erwartet nach Hause. Er findet seine Frau mit einem anderen Mann im Bett. Er sieht die nackten Körper, hört ihr Stöhnen. Es dauert ein Weilchen bis er reagiert – als weigerte sich sein Gehirn, diese Szene für wirklich zu halten. Als er begreift, greift Takuro nach einem Messer und sticht auf seine Frau ein, bis das Blut selbst auf die Kamera spritzt. Danach setzt er sich auf sein Fahrrad und fährt auf die Polizeiwache. Er bekommt acht Jahre für den Mord an seiner Frau. Als er aus dem Gefängnis kommt, nimmt er in einem mit Wasser gefüllten Plastikbeutel einen Aal mit. Der durfte vorher im Gefängnisbrunnen schwimmen und war Takuros einziger Gesprächspartner in diesen acht Jahren. Takuro zieht in einen Vorort von Tokio und eröffnet dort einen kleinen Frisörsalon. Ein Mädchen, das früher mit einem Gangster liiert war, verliebt sich in ihn. Zweimal steht sie auf der Brücke, um ihm Butterbrote zum Angeln mitzugeben. Zweimal fährt er wortlos an ihr vorbei. Beim dritten Mal nimmt er sie.
„Unagi“ ist ein trauriger Film, der sich jeder Depression enthält. Imamura hat sich für den Ort seiner Handlung einen wunderschönen Flecken nahe bei Tokio ausgesucht. Ein großer See, umgeben von viel Grün. Als Takuro das Mädchen zum ersten Mal sieht, liegt sie auf einer Wiese, schön wie ein Bild zwischen all den rosa und weißen Blumen, die leere Schlaftablettenpackung neben sich. Der Film erzählt, was es die beiden gekostet hat, bis sie zur Anfangsszene finden. Das Glück – ein Butterbrot? Nur wenn man am Verhungern ist. „Unagi“ lief in der Mitte des Festivals. Da war ich noch hungrig auf Fleisch.
In Abbas Kiarostamis „Der Geschmack der Kirsche“ fährt ein Mann stundenlang durch die Gegend und sucht einen Menschen, der ihm hilft, Selbstmord zu begehen. Er will Schlaftabletten nehmen, sich in eine Grube legen, und der Helfer soll am nächsten Morgen gucken kommen, ob er noch lebt. Wenn ja, soll er ihm aus der Grube helfen, wenn nicht, soll er die Grube zuschaufeln. Der erste Helfer, den er sich ausguckt, ist ein junger Soldat, der es mit der Angst bekommt und wegläuft. Der zweite ist ein Seminarist, der es aus Glaubensgründen ablehnt, bei einem Selbstmord zu helfen. Der dritte schließlich willigt ein. Es ist ein alter Mann, der im Naturkundemuseum von Teheran arbeitet. Er billigt den Selbstmord nicht, aber er respektiert die Entscheidung. Der Alte bittet den Mann nur, sich die Sache gut zu überlegen. Er weiß ein paar gute Gründe, warum es sich doch lohnt zu leben.
Die Gegend von Teheran, in der Kiarostami seinen Film gedreht hat, ist häßlich. Überall staubige Kiesgruben, kaum ein Baum. Gegen abend wird es jedoch immer schöner. Die untergehende Sonne vergoldet den Staub. In der Nacht dann legt sich der Mann in seine Grube. Ein Gewitter färbt Himmel und Leinwand schwarz. Manchmal, wenn der Vollmond hervorkommt, sehen wir den Mann in seiner Grube liegen. „Warte einen Moment“, möchte man rufen, „laß uns erst noch die restlichen Filme sehen.“
Michael Hanekes „Funny Games“ zum Beispiel. Schockierend genug, um einen Leichnam aus dem Grab zu heben. Und darum geht's doch im Leben wie im Kino: Einen Schock zu erleben, etwas, das einen die nächsten Tage beschäftigt, etwas, das die Dinge ändert. „Funny Games“ ist intelligent und unsympathisch: Darüber möchte man doch noch reden.
Haneke schickt zwei junge Männer in ein Ferienhaus, damit sie dort eine Familie töten. Sie sind so wohl erzogen und zuvorkommend, daß man sich selbst bei den sadistischsten Spielchen kaum traut aufzumucken. Das wäre unhöflich. Der eine sieht gelegentlich in die Kamera und wird vertraulich mit uns, zwinkert uns zu oder macht sich über uns lustig. Weil wir abgestoßen sind und doch gebannt sitzenbleiben. Haneke hat einen brillanten Film über die Lust an der Gewalt gedreht. Man kann die Augen nicht abwenden und muß dafür einstecken, daß sich der Film höhnisch darüber lustig macht. Wie ein Quintaner sitzt man vor dem strengen Lateinlehrer. Ich wüßte nicht, welchen Vorwurf man Haneke machen kann: Nie bedient er, was er kritisiert. Er zeigt nicht das Schlachten, er zeigt die Spuren, die es in den Gesichtern hinterläßt. Hanekes insistierendes „Das wollt ihr doch, oder? Das gefällt euch doch?“ hat Ähnlichkeit mit einem Mann, der sein Opfer vergewaltigt, nachdem er erfahren hat, daß es schon einmal davon geträumt hat. Was für ein billiger Triumph.
Wong Kar-wais „Happy together“ zum Beispiel. Ein trauriger Film über die Liebe, das würde dir gefallen: Zwei junge Chinesen in Buenos Aires, eine Geschichte von Liebe, Betrug, Tango und Fußballspielen. Erzählt in Schwarzweiß und Technicolor. Lärmende Großstädte und einsame Zimmer. Ein Regisseur, der den Verkehr im Tangorhythmus schneidet und die Kamera fast in die Sonne hält, so daß sich rote Kreise im Bild spiegeln.
Es ist ein unwiderstehlicher Film. Melancholisch, aber mit einer großen Lust gedreht. Und irgendwann springt auch das Hirn an: Wongs Liebespaar sind zwei junge Männer. Keine Tunten, einfach zwei junge Männer. Lai versucht mit Aushilfsjobs über die Runden zu kommen, Ho driftet ab in die professionelle Schwulenszene, in die Gewalt und die Prostitution. Lai wirft ihn raus, aber bald steht Ho wieder vor der Tür, das Gesicht zerschlagen und die Hände zerschmettert. Es ist eine qualvolle Liebesgeschichte. Aber interessant ist vor allem, daß es keine Gewinner und Verlierer gibt. Lai ist zwar der stärker Liebende, aber er schließlich trennt er sich von Ho. Einsam und traurig steht er vor dem Wasserfall, zu dem sie eigentlich gemeinsam reisen wollten, während Ho das Zimmer aufwischt – eine Tätigkeit, die er früher empört von sich gewiesen hätte – und in die Bettdecke weint.
Unglückliche Liebesgeschichten zwischen Männern und Frauen werden meist so erzählt, als müßte der Regisseur eine alte Rechnung begleichen. Der untreue Partner, so will es das Filmgesetz, muß am Ende dafür bezahlen. In „Happy Together“ gibt es keine Abrechnung. Ohne daß der Film das im geringsten hervorhebt, fällt auf, daß dies eine Liebesgeschichte zwischen zwei gleich Starken ist.
Hey, Mann in der Grube, das ist neu. Darüber möchte man doch noch nachdenken.
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