: Gekrüssel und Geschenkpapier
■ Fingernagel- oder Handschriftenreste: Die Ausstellung „Visuelle Poesie aus Japan“präsentiert Großartiges und Witzloses
Japan! Land der virtuellen Popstars, des dekorativen Geschenkpapiers und des Schönschreibens. Wo aber, so die Frage angesichts des schwarzen Gekrüssels auf den weißen Blättern, beginnt die Schrift? Wo das Bild? Mit dieser Aufteilung wird man, schon weil das sino-japanische Schriftzeichen seine Herkunft aus dem Bild nicht verleugnet, nicht weit kommen. Schlauer ist es, die komplizierte Verschlingung noch zu beschleunigen und zu sehen, welche weiteren Fragen dabei entstehen. Genau das ist das Vorhaben der Ausstellung Visuelle Poesie aus Japan im Literaturhaus.
Der Kurator Klaus Peter Dencker prägte schon in den Siebzigern den Begriff des „Textbildes“. Textbilder sind Experimente. Sie versuchen, verschiedene Formen des Verweises ineinandergreifen zu lassen. Und so verschwimmen in Yoshizawa Shojis „Text In Water: Three Lines“Schrift und Bild. Wann hört das Schriftzeichen für „Wasser“auf, ein Schriftzeichen zu sein und ist soweit zerstäubt, daß es zu einem Bild von Wassertropfen wird? Andere Exponate untersuchen die Grenzen des Zeichens. Wenn Yamanaka Ryojiro die neun Striche des Schriftzeichens für „Wind“so auseinander bläst, daß sie im schiefen Winkel und unverbunden nebeneinander liegen, ist das Zeichen dann orthographisch falsch oder gar kein Zeichen mehr? Oder, andersherum: Wieso sehen die abgeschnittenen Fingernagelreste Saito Toshinoris, wie sie da im Häufchen beisammenliegen, so verdammt nach einem derangierten Schriftzeichen aus? Saitos Fingernägel sind nur solange kein Zeichen, solange man sie nicht als ein solches benutzt. So wie Saito weist die ganze Ausstellung darauf hin, daß es keinen Grund gibt, die gegebenen Grenzen der Zeichen zu akzeptieren: Die Welt ist veränderbar.
Es ist schön, wenn eine Präsentation auf ihr Material vertraut – in diesem Fall durchaus zu Recht: großartige Exponate! – und davon absieht, immer alles erklären zu wollen. Sehr unschön ist dagegen das vollständige Schweigen der Organisatoren. Mukai Shutaros „Zwischen Menschen“ist einigermaßen witzlos, wenn man nicht weiß, daß die beiden verwendeten Schriftzeichen eben genau für „Menschen“und für „im Dazwischen“stehen. Alles, was sich dann noch sagen läßt, ist dann nämlich, daß Mukais Druck ja recht hübsch sei und sich prima zum Geschenkpapier eigne. Matthias Anton
bis 6. Juni im Literaturhaus, Schwanenwik 38; ab 29. Mai bis 26. Juni im Deutsch-Japanischen Zentrum, Stadthausbrücke 17
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