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Das seltsam schwule Prinzip Westerwelle

■ Der Haußmanntypus eines Dandys: In Bochum wurde Andreas Marbers „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“ als Mix aus Chaos und PR-Bewußtsein aufgeführt

Inzest und Stasi, Russenmafia und Rattenplage, schwule Pastoren und koksende Lyriker – kein Ekelthema wird ausgelassen. Schon der Titel des neuen Stücks von Andreas Marber, dem eloquenten Meister der modischen Peinlichkeit, ist ein Kunstwerk: zwei Namen, verbunden durch eine Präposition. Sofort wabert Bedeutung. Rimbaud, der Prototyp des neuen Menschen: egoistisch, frei, kreativ, verzweifelt. Und Eisenhüttenstadt, Archetyp der Orte der Vergangenheit: kollektivistisch, verrostet, öde, abgewickelt. Ekstase und Banalität, schwule Orgie im Plattenbau. Aufregend! Andreas Marber verdankt seine geringfügige Bekanntheit dem sogenannten Stuttgarter Theaterskandal vor zwei Jahren, einer hochkomischen Affäre um Schauspieler, Dramaturgen, Theaterkritiker und zwei Theaterstücke. Nach der Uraufführung des Corpus delicti, der Theaterbetrieb- Satire „Die Lügen der Papageien“, in Bochum, holte man ihn im letzten Jahr als Dramaturgen ans dortige Schauspielhaus. Sein neuestes Werk ist in Bochum allerhöchster Aufmerksamkeit gewiß: Es inszeniert Jürgen Kruse, Tragödienspezialist des Hauses; die Hauptrolle spielt der Intendant, Leander Haußmann.

Zu Rimbaud gehört Verlaine, versteht sich; im Stück heißt er Dr. Martin Wolf, und damit sind wir beim Kern des Stückes: dem Trennungsstreit eines Schwulenpaars. Alles darum herum ist Marketing auf der Suche nach semantischem Extraprofit und wirkungssüchtige Geschmacklosigkeit. Rimbaud – nicht Verlaine wie in der Originalversion – ist verheiratet mit einer jungen, gehirngeschädigten Frau namens Vera Vernunft, die ein fünfjähriges Kind hat.

Ratten fressen sich durch den Plattenbau

In der „Fickzelle mit Fernheizung“, wie Heiner Müller einmal die Plattenbauten genannt hat, gibt es riesige Ratten. Eine Kammerjägerin, umgeschulte Stasi-Mitarbeiterin, soll sie vertreiben. Sie brechen in die Wohnung ein, fressen die Pillen von Rimbauds Frau und sterben ebenso wie diese am Ende an Tablettenvergiftung. Doch diese Schwundstufe einer Handlung ist in der Bochumer Inszenierung kaum noch auffindbar.

Jürgen Kruse zerlegt auch dieses Stück in seine Einzelteile und garniert die Bestandteile mit eigenem Assoziationsmaterial. Und das sind die besten Momente des Abends. Das Bild des Anfangs: der Gazevorhang, auf dem Albrecht Dürers nacktes Selbstporträt vor einem Sternenhimmel liegend zu sehen ist, wird durchsichtig, man erkennt eine Frau, die sich anzieht, gelblich glühende Heizkörper, rote Stehlampen, und durch die Fenster sieht man hinten auf den zerfressenen Beton von Hochhausrohbauten. Dazu langsame Rockmusik.

Ein Mann auf einer Leiter vor einem Bücherregal reißt Seiten aus Büchern. Darüber gehen, bleich wie der Mond, Hammer und Sichel auf. Immer wieder unterbricht Kruse den hektischen Redeschwall des Stücks durch solche ruhigen Einschübe. Dann wechselt das Licht, und hinter den Fenstern verschwinden die verrotteten Neubauruinen und schmucke, blumengeschmückte Wohnblockbalkone werden sichtbar, sozialistische Idylle wie aus einer SED-Broschüre. Durch die Gegenbewegung der beiden Prospekte hinter den Fenstern scheint sich die ganze Bühne zu heben: Momente der beschädigten Utopie.

Kinderverse auf Kokain

Ansonsten rast der Wahnsinnsdialog vor sich hin, begleitet von bizarren Einfällen. Die Schreibmaschine wird zur Schußwaffe, Kokain mit dem Staubsauger geschnüffelt, Hamlet zitiert. Vera Vernunft putzt sich mit dem Vibrator die Zähne. DDR-Schlager werden gegrölt, Kinderverse aufgesagt, Bob Dylan tönt aus dem Lautsprecher. Je später der dreieinhalbstündige Abend, desto schwerer ist das zu ertragen. „Gott, ist das eine Qual, bis die alle weg sind“, stöhnt Rimbaud. Und alle Zuschauer stimmen zu.

Wenn Henry Miller recht hat und der Rimbaudtypus in der zukünftigen Menschheit den Hamlettypus und den faustischen Typus ablösen wird, dann wissen wir jetzt, wie dieser Typus aussehen wird. Leander Haußmann führt vor, daß das „Prinzip Rimbaud“ (Chaos, Manie, Bindungslosigkeit), wie es ein Text von Reinhold Adt im Programmheft beschreibt, und das „Prinzip Westerwelle“ (PR-Bewußtsein, Selbstmanagement, Tagesaktualität) durchaus vereinbar sind. Nach einer kleinen Nebenrolle in einer Strindberg-Inszenierung exponiert sich der Hausherr hier zum erstenmal als Schauspieler in voller Größe. Stück und Inszenierung spielen mit der Idee des enthüllenden Selbstporträts durch den Verweis auf jenen Dürer-Akt. Und Haußmann zeigt wirklich, was er ist: ein wirkungssicherer und hemmlungsloser Schauspieler. Gerhard Preußer

Andreas Marber: „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“. Schauspielhaus Bochum. Regie: Jürgen Kruse. Mit: Leander Haußmann, Torsten Ranft, Henriette Thimig. Weitere Vorstellungen: 29. 5., 18. 6., 6. 7.

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