: Wiedergänger aus dem Schützengraben
■ Klar wie eine Malerin der Neuen Sachlichkeit: Der Roman „Niemandsland“ von Pat Barker reüssiert mit dem ungeliebten Thema Krieg und den psychischen Folgen
Am Anfang soll Schutz sein, doch Schutz ist mitunter nur im Verrat. Der Zugführer Siegfried Sassoon hat dem englischen Parlament eine Antikriegserklärung vorgelegt, in der er zur Beendigung des Tötens in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs aufruft. Robert Graves hat seinen Freund Sassoon überredet, sich einer Militärkommission zu stellen, in Craiglockhart. Craiglockhart, hoch im schottischen Norden, beherbergt im Jahre 1917 ein Militärhospital, genauer: eine Nervenklinik. Das Ziel von Zugführer Sassoon war Craiglockhart nicht; er wollte vor das Kriegsgericht gestellt werden. Sein Military Cross, verliehen für höchste Tapferkeit, hat Sassoon in den Mersey geworfen. Jetzt sitzt er Doktor Rivers gegenüber, dem Militärpsychiater, einem feinsinnigen Herrn Ende Fünfzig. 1917 ist Craiglockhart ein Archiv, in dem der englische Staat seine beschädigten Weltkriegswerkzeuge verwalten und – so möglich – zwecks Wiedereinsatz reparieren läßt.
„Man muß etwas tun!“ ist ein Satz, der sich in einer außerhalb der proletarisch-revolutionären Arbeiterliteratur entstandenen Geschichte eher exotisch ausnimmt. Es muß gute Gründe geben, ein Buch so und mit der Losung „Nieder mit dem Krieg“ einzuleiten. Die Engländerin Pat Barker hat welche – sie heißen Dokumente. Der reale Siegfried Sassoon (1886–1967) protestierte im Sommer 1917 mit einer Deklaration gegen den Ersten Weltkrieg, wurde vor eine Militärkommission gestellt und in Craiglockhart eingewiesen. Der reale Doktor Rivers, Fellow der Royal Society und Autor von „Conflict And Dream“, behandelte den „Patienten B.“ statt mit Elektroschocks nach einer neuen Methode – der Analyse nach Freud. Das ist das Muster, das Pat Barker literarisch ausmalt, und sie malt klar – klar wie die Maler der Neuen Sachlichkeit, aber auch so unnahbar emotionslos.
Seite um Seite arbeitet sich der Leser durch Spaziergänge übers Land, nachempfundene Therapiegespräche und Traumdeutungen, die von strahlender Belesenheit zeugen. Die Autorin hat sich mit der Wahl des Gegenstands einem zweifachen Risiko ausgesetzt: Zum einen gilt der Krieg als Angelegenheit der Männer; zum anderen mußte Barker, von Hause aus Historikerin und Ökonomin, erhebliche Recherchen absolvieren, um die Anfänge der Psychoanalyse für ihr Buch aufzubereiten.
Das Buch, ein Roman übrigens, scheint ein ewiges und immer wieder beschriebenes politisches Phänomen zu verhandeln – die Psychiatrisierung Andersdenkender, manchmal auch die Psychiatrisierung der Wahrheit genannt –, und tut es andererseits doch nicht. Sassoon schwankt in seiner Beurteilung des Kriegs. Mal lehnt er das Töten ab, mal sehnt er sich todessüchtig an die Front zurück. Warum das so ist? „Jemand wie Sassoon würde immer Schwierigkeiten machen, aber es würde viel weniger problematisch sein, wenn er krank wäre“, sinniert Rivers. Barkers Siegfried Sassoon ist nicht gerade der heilige Narr, aber doch sein intellektueller Wiedergänger.
Siegfried – der Name ist nicht allein authentisch, er wird auch mehr und mehr Symbol. Siegfried Sassoon ist, was als Modell zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die Öffentlichkeit drängt: der schöne, schwule, aggressiv-kalte Dichter. Er wird von einem Arzt behandelt, der sich seiner sexuellen Präferenzen nicht sicher ist – eine Ebene, mit der Pat Barker sehr diskret den Hintergrund schattiert. Daß die Psychoanalyse ein Privileg der Mittel- und Oberschicht ist, führt zu einem tatsächlichen Defizit des Romans. Pat Barkers Krieg ist nicht nur so weit weg vom Craiglockhart der Autorin, daß man ihn kaum glauben mag, es gibt auch keine Soldaten in ihm. Beides ist seltsam – es macht „Niemandsland“ nicht nur zur allzu allgemeingültigen Krankengeschichte, sondern auch zur Klubangelegenheit.
Krieg ist schrecklich – oder nicht? „Niemandsland“ nähert sich über weite Strecken dem Trivialroman (und literarisch unstatthafter noch: dem Arztroman) und ist bei aller Gelehrsamkeit ästhetisch zu bescheiden, als daß er den Leser durchweg ergreifen oder – Stärkeres muß her – wachrütteln würde. Ergreifen, wachrütteln? Das ist man der Geschichte schuldig. Oder nicht? Der zum Skelett abgemagerte Burns, ein Patient aus Craiglockhart, leidet an einer entsetzlichen Neurose. Während einer Schlacht wurde er von der Druckwelle einer detonierenden Granate fortgeschleudert und landete auf der Leiche eines deutschen Soldaten, den Mund voll verwesendem Menschenfleisch. Was abscheulich, traumatisierend klingt, konsumiert sich bei der Lektüre wie ein Comic. Effekte sind manchmal Kunst, manchmal nicht. Was will der Roman? „Niemandsland“ stellt nebenbei die Frage, was ein Buch über und wider den Krieg heute soll und kann.
Das aber bleibt ein Rätsel. Pat Barker wollte ein feministisches Buch gegen den Krieg schreiben – wo ist es? Natürlich ist immer im Recht, wer gegen den Krieg ist und Lebensjahre daran gibt, das auch mit Folgen bekanntzumachen. Pat Barker hat ein denkbar unpopuläres Thema gewählt. Sie erzählt aus wechselnden Perspektiven. Der Leser ist mal Sassoon, mal Rivers, Graves oder Burns – eine gespenstische Wanderung, in der jedes Ziel Tod heißen kann. Am Ende entschließt sich Siegfried Sassoon, an die Front zurückzukehren. „Das Verrückteste, was ich je getan habe, geschah auf Befehl“, sagt Sassoon. „Niemandsland“ – kein Titel wäre treffender – läßt den Leser trotz aller zwischen den Seiten indirekt abrufbarer Manifeste so allein, wie die Politiker die Soldaten mit dem Ablaufen der Gnadenfrist im Sanatorium Craiglockhart allein lassen. Das ist die größte, vielleicht aber auch die einzige literarische Qualität des Romans. Anke Westphal
Pat Barker: „Niemandsland“. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork, Hanser Verlag, München 1997, 324 Seiten, 39,80 DM
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