: Über Haie und Politik
■ Rezension: Kluge und informative Texte über den Alltag in Hongkong
Die Haie von Hongkong scheren sich nicht um Politik. Ihnen ist es gleichgültig, ob die Stadt von britischen oder bald von volkschinesischen Polizisten bewacht wird. Sie werden, wenn die Ströme günstig sind, wieder zur Silver Beach von Sai Kung schwimmen und Badende fressen. Ein Chinese schmeckt ihnen genauso gut wie ein Engländer oder Deutscher.
Werner Meissner ist Deutscher, Professor an der Hongkong Baptist University und Direktor der East-West Studies am David Lam Institut. Er hat eine ganze Reihe grundlegender Bücher zum modernen China veröffentlicht und vor kurzem auch einen Band mit Reportagen über Hongkong. Eine davon erzählt von diesem Tigerhai, der im Juni 1993 eine Hysterie auslöste, eigenartigerweise dennoch kaum jemanden vom Baden abhielt. Meissner nennt seine Reportagensammlung „Hongkonger Notizen: Ein politisches Tagebuch“. Die Geschichte vom Hai ist nicht politisch, aber hübsch ironisch mit Sinn für das groteske Detail.
Eigentliches Thema seiner intelligenten und über den Tag hinaus informativen 32 „Notizen“, geschrieben während der vergangenen vier Jahre, ist der Alltag von Hongkong. Das magische Datum 1. Juli, dem Meissner mit großer Skepsis entgegensieht, ist ihm Anlaß zu fragen, wer in Hongkong die Strippen zieht, wer gezogen wird und wie alle damit fertig werden.
Zum Beispiel die „Schwalben“. So nennt man die Amahs, die philippinischen Hausangestellten, ohne deren Arbeit jeder Ausländerhaushalt, aber auch der der großen chinesischen Mittelschicht, zusammenbrechen würde. Mindestens 100.000 Amahs leben in der Stadt, und jeden Sonntag treffen sie sich im Central District, lackieren sich die Nägel, erzählen von den Kindern und Eltern daheim, die nur der Scheck aus Hongkong am Leben erhält. Weil die Briten bei den Übergabeverhandlungen versäumten, ihre Aufenthaltsrechte zu sichern, ist ihre Zukunft unsicher. Werner Meissners Geschichten haben alle eine Moral. Ob über Umweltschutz, über die Börse oder den Bauboom, Meissner glaubt fest daran, daß der Hongkonger Kapitalismus nur dann mit dem chinesischen Sozialismus zusammengehen kann, wenn Peking die demokratischen Freiheiten nicht abschafft. In seinem vorletzten Kapitel „Schatten über Hongkong“ attackiert er die östlichen, aber auch westlichen Politiker, die mit Konfuzius auf den Lippen und Geschäften im Sinn behaupten, daß die Asiaten eine andere Auffassung von den Menschenrechten hätten. „Die Höherwertigkeit der Gemeinschaft wird stets von Diktatoren und ihren Propagandisten ins Feld geführt“, schreibt er und unterfüttert dies mit Konfuzius-Zitaten. Er kritisiert die Medien der Stadt, die schon vor Jahren begonnen haben, die Bevölkerung gezielt zu desinformieren.
Meissner wird voerst in Hongkong bleiben. Er wird berichten, ob sein Pessimismus nur intellektuelle Schwarzseherei war. Sein Buch endet mit dem Satz: „Es erscheint als eine Dialektik der Geschichte, daß zum Zeitpunkt der Abschaffung des letzten kolonialen Relikts auf chinesischem Boden, nämlich Hongkong, dieses erneut zum Opfer politischer Unterdrückung zu werden droht.“ Anita Kugler
Werner Meissner: „Hongkonger Notizen. Ein politisches Tagebuch“. Edition Global, München 1997, 233 Seiten, 26 DM
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