: Das Handy klingelt selbst im Tempel
■ Wer in Hongkong viele drahtlose Schwätzchen hält, zahlt weniger
Eine regelrechte Telefoniersucht hat Hongkong ergriffen. Egal ob auf der Straße, im Restaurant, im Auto oder im öffentlichen Nahverkehr – in Hongkong wird ununterbrochen telefoniert. Mindestens fünf Herren fassen sich an das Jacket, wenn in der U-Bahn das gleichförmige Klingelzeichen ertönt. Die siebenminütige Fährfahrt zwischen dem Stadtteil Kowloon und der Insel Hongkong nutzen viele für ein kleines drahtloses Schwätzchen. Dabei geht es keineswegs immer um wichtige Geschäftsgespräche. Teenager telefonieren auf der Straße oder im Bus ebenso wie die allgegenwärtigen Anzugträger und Hausfrauen nach dem vormittäglichen Einkauf.
Regelmäßig wird das Mandarin- Oriental im Bezirk Central zum Hotel mit dem besten Service auf der ganzen Welt gekürt. Doch wer sich einbildet, in der nobel- gediegenen Atmosphäre bei einem Getränk oder Imbiß etwas Erholung von der Hektik der City zu finden, wird herbe enttäuscht. Alle zwei Minuten klingelt einer der handlichen Apparate an einem Nachbartisch, manch ein Gast verbringt den ganzen Nachmittag telefonierend. Auch in den vielen kleinen Tempeln, die über die ganze Stadt verteilt sind, unterbricht mit schöner Regelmäßigkeit ein aufdringliches Klingeln die stille Andacht, der sich jung und alt mit einem Bund feiner Räucherstäbchen in der Hand vor dem Altar des Buddha hingeben. Das Gebet wird für wenige Minuten unterbrochen, dann geht es weiter, bis zum nächsten Klingelzeichen.
Mit den Handys läßt sich ein Bombengeschäft machen. Der Hongkonger Markt wird auf etwa zwei Millionen mobile Telefonanschlüsse geschätzt, der Umsatz auf mehrere Milliarden Mark pro Jahr. Nachdem die Zahl der Mobiltelefone allein von März 1995 bis März 1996 um 65 Prozent auf 800.000 emporgeschnellt war, sind nach Angaben der Hongkong Telecom in den folgenden Monaten noch einmal fast eine halbe Million hinzugekommen. Nach Angaben der führenden Telefongesellschaft waren in der Sechs-Millionen-Stadt Hongkong in diesem März 1,3 Millionen Handys im Einsatz.
Seit Beginn des Jahres kämpfen vier private Anbieter um das übriggebliebene Marktsegment, fünf weitere sind in den Startlöchern. Die Konkurrenz zwang Hongkong Telecom zu einer Gebührenreform, die den Namen „Intelligentes Rechnungssystem“ erhielt. Der Minutenpreis richtet sich nach der Gesamtdauer der drahtlosen Gespräche, und die Kunden wechseln bei Über- und Unterschreiten der Grenzen automatisch in eine andere Tarifgruppe. Vieltelefonierer werden belohnt: Wer mehr als 500 Minuten im Monat mit seinem Handy telefoniert, zahlt nur noch 2 Hongkong-Dollar für 60 Sekunden, umgerechnet 40 Pfennig. Und noch eine Besonderheit, die das häufige Telefonieren in der U-Bahn erklärt: Die Telecom schenkt ihren Kunden 50 Minuten im Monat für Gespräche unter der Erde. Eine verkehrspolitisch sinnvolle Maßnahme. Eine jüngst in der angesehenen Medizinerzeitschrift New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie konnte nachweisen, daß telefonierende Autofahrer viermal häufiger in Unfälle verwickelt sind als ihre Kollegen ohne Handy. Jens Holst
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