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■ Vor dem zweiten Wahlgang in Frankreich: Die Sozialisten erscheinen nur stark, weil die Rechten so schwach sindSchweigende Herzen

Seit der Nacht vom letzten Sonntag überschlagen sich meine deutschen Freunde mit Glückwünschen: Was sagst du jetzt? Zufrieden? Mit einer solchen Überraschung hast du bestimmt nicht gerechnet! Die französische Linke ist wieder auferstanden! Und seit diesem Sonntag abend zwinge ich mich, zu lächeln und stammle verlegen: „Ja, ja ... das war schon eine Überraschung.“

Aber was ich auch versuche, in eine richtige Begeisterung kann ich mich nicht hineinsteigern. Sicher gestehe ich eine gehörige Portion Schadenfreude, wenn ich den Knall der Ohrfeige höre, die Präsident Chirac verabreicht wurde. Aber gibt es wirklich irgend etwas, über das man sich freuen könnte? Ist diese Wiederauferstehung der Linken wirklich mehr als ein Produkt des Versagens der Rechten? Fest steht, daß die guten Ergebnisse der Linken weder ein Plebiszit für das Programm der Sozialisten darstellen noch einen Fanfarenstoß zur Feier Lionel Jospins. Es reicht, zuzuhören, was das „Volk der Linken“ nach der Wahl so sagt, um sich klar zu werden, daß das Herz diesmal schwieg. „Was willst du“, sagte mir eine Freundin, Aktivistin der Linken aus Clermont-Ferrand, „ich wähle Jospin, weil nichts Besseres in Sicht ist. Um nicht für Chirac zu stimmen. Um gegen Le Pen eine Sperre zu errichten. Ich hab' keine Wahl.“

Nein, Frankreich wird keinen „Blair-Effekt“ erleben. Die Labour-Leute kamen nach 18 Jahren konservativer Herrschaft und mit einer vollständig neuen Mannschaft an die Macht. Der „Jospin- Effekt“ erinnert mich mehr an den traurigen „Scharping-Effekt“. Jospin fehlt jedes Charisma. Aber wenigstens hat er das Verdienst, seriös und rechtschaffen zu sein. Das sind seltene Qualitäten bei französischen Politikern, einer Spezies, zerrüttet von Skandalen und Korruptionsaffären. Jospin erweckt im Unterschied zu seinem zurückgetretenen Vorgänger den Eindruck, auf die Leute zu hören und sich nicht hinter der Sprache der Technokraten zu verbarrikadieren. Das tröstet ein wenig. Zudem muß Jospin die schwere Bürde der Enttäuschung über die Jahre Mitterrands tragen. Die von Mitterrand veranlaßten, wahrhaft schurkischen Abhörpraktiken tragen ebensowenig wie der unerträgliche Personenkult um den Monarchen dazu bei, die Sozialisten liebenswert zu machen. Ich wage es schon nicht mehr, durch eine französische Bibliothek zu streifen, aus Furcht, über einen neuen Memoirenband zu stolpern. Wir sind, eingeklemmt zwischen den Indiskretionen der Hellseherin des Präsidenten und den vertraulichen Mitteilungen einer schwedischen Journalistin, die die Freundin (Die Geliebte? Ganz Frankreich spekuliert darüber) von François war, einfach zum Opfer einer Überdosis geworden. All das hat das Bild der Sozialisten diskreditiert.

Wird es Jospin gelingen, der Linken zu neuer Dynamik zu verhelfen? Wird er an der Erbschaft Mitterrands festhalten oder sich von ihr befreien? Wird er aus den Sozialisten eine Partei des Wandels machen, den die Franzosen so sehr wünschen? Als ich am letzten Sonntag abend das Bild von Jack Lang im Fernsehen sah, ergriff mich tiefe Mattigkeit. Jack Lang steht in Blois in der Stichwahl. Zu erwarten wäre gewesen, daß er es, bequem im Sessel ausgestreckt, im ersten Wahlgang geschafft hätte – auf Händen getragen vom Volk der Linken. Aber auch in Blois scheint es zahlreiche Leute zu geben, die von ihm genug haben. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ist Valéry Giscard d'Estaing zum erstenmal seit 40 Jahren nicht in der ersten Runde gewählt worden. Und über Philippe Séguin erzählt man sich, daß er es nur knapp vermied, auf seinem Rathaus in Epinal alles kurz und klein zu schlagen, als ihn die Nachricht ereilte, er müsse sich der Stichwahl stellen. Frankreich wird zum Raub der „Politikverdrossenheit“ [deutsch im Orginal, A.d.Ü.], vergleichbar der, die Deutschland nach der Vereinigung heimsuchte. Man hat genug von den immergleichen Köpfen und den immergleichen Ansprachen. Die Rechte und die Linke, das ist ein bißchen die gleiche Sache. Man sehnt den Wandel herbei, weiß aber nicht genau, woher er kommen soll. Man hat nichts, zumindest nichts Großartiges von den Reformen gesehen, die während der Präsidentschaftskampagne versprochen wurden. Und als dem Präsidenten Chirac im Lauf seiner vergeudeten Ansprache vom Montag abend nichts besseres einfiel, als ein „humaner und moderner Weg“ für Frankreich, war das keine große Überzeugungstat.

Frankreichs Volk ist ermüdet von dem kleinen politischen Spiel, ihm gehen die gebrochenen Versprechen Chiracs und der anderen Großkopferten auf die Nerven. Haben die Franzosen nicht andere Mittel außerhalb der politischen Institutionen gefunden, sich auszudrücken? Die große Streikwelle des Winters 1995, die Kirchenbesetzungen, um die zu schützen, die sich ohne Papiere in Frankreich aufhielten, der Protest gegen das „Gesetz Debré“, die große Kundgebung gegen die Front National in Straßburg – alles Bewegungen, die von der Energie der Civil Society zeugten und Mut machten.

Seltsam dieses Schauspiel des zweiten Wahlgangs, in dem die Nichtwähler und die Anhänger der extremen Rechten den Schiedsrichter spielen werden. 15 Prozent haben rechtsextrem gewählt. Früher sagte man, daß die Mehrheit für Le Pen in Städten wie Vitrolles und Toulon Ergebnis einer Protestwahl gewesen sei. Ein Fehltritt, ein Mißverständnis. Heute haben sich die Proteststimmen in Stimmen der Zustimmung verwandelt. In Vitrolles und Toulon wird im zweiten Wahlgang der Kandidat der Sozialisten dem der Front National gegenüberstehen.

Jospin und Chirac müssen sich am nächsten Sonntag an einer gefährlichen Seiltanznummer versuchen. Jospin muß die Grünen und die Kommunisten hinter sich bringen, ohne die gemäßigt linken Wähler allzusehr zu verschrecken. Und Chirac muß den unentschuldbaren Fauxpas vermeiden, an die Wähler der Front National zu appellieren. Was die Veränderungen angeht, die so lautstark von der einen wie der anderen Seite versprochen worden sind ... alleiniger Kommandeur an Bord mit einer geschwächten Rechten oder „kohabitierend“ mit einer Linken, deren Programm wenig gefestigt ist – Chirac wird am Montag morgen kein solides Steuerrad in den Händen halten, das er fürs Finish in der Euro-Regatta braucht. Wenn es die Rechte schafft, wird es keine Fete am Place Concorde geben. Und wenn die Linke vorne ist, wird kein Volksfest steigen wie 1981 an der Bastille. Pascale Hugues

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