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Doppelte Dosis Poesie

■ French Open: Nach dem Favoritensterben konzentriert man sich auf Gedichtmotivation und freut sich an Kleiderkäufen

Paris (taz) – Da sag' noch mal einer, ein Tennisprofi kommt über den Horizont des gelben Filzballs nicht hinaus. Hicham Arazi, der wieselflinke Marokkaner aus Casablanca, läßt sich vor jedem Match von seinem Trainer aus einem dicken Band des französischen Dichters Jacques Prevert ein aufbauendes Gedicht vorlesen. Am Morgen vor seinem Spiel gegen Magnus Larsson verdoppelte sein italienischer Coach Alberto Castellani die Dosis. Gleich zwei Gedichte von Prevert verhalfen dem 23jährigen Nordafrikaner dann auch zu einem klaren Sieg gegen den Schweden und zum Einzug ins Achtelfinale der French Open. „Manchmal nehme ich auch Verse von Goethe, um seinen Streß damit zu kontrollieren“, sagt Castellani. „Das hilft mir wirklich, ich bin viel ruhiger auf dem Platz“, versichert Arazi.

Die diesjährigen Internationalen Französischen Tennis-Meisterschaften erleben eine nie gekannte Serie von Favoritenstürzen. Noch gerade mal drei der insgesamt 16 gesetzten Männer werden sich im Viertelfinale wiederfinden. Insbesondere die Aufschlagkanoniere Richard Krajicek, Marc Rosset sowie der australische Geheimfavorit Mark Philippoussis, demontiert vom Titelverteidiger Jewgeni Kafelnikow, waren chancenlos und haderten eher mit dem böigen Wind als mit sich selbst. Die zweite und dritte Reihe nutzt dagegen die Gunst der Stunde. So treffen der Schwede Magnus Norman (65. der Weltrangliste) und der belgische Qualifikant Filip Dewulf (112.) im Viertelfinale aufeinander.

Ob der serienweise Ausfall von Favoriten oder Absagen von Stars wie Agassi, Becker oder Stich, die Veranstalter kratzt dies offenbar wenig. Die 14 Tage währende Veranstaltung ist seit Wochen komplett ausverkauft. 33.000 Tennisfans schieben sich täglich friedlich über die Anlage, die 1928 nach dem französischen Weltkriegsflieger Roland Garros benannt wurde. Die wirtschaftliche Bedeutung der French Open hat enorm zugenommen. Mehr als 140 Millionen Mark kommen in diesem Jahr in die Kassen, viermal soviel wie vor zehn Jahren. Zum Vergleich: die „Tour de France“ kommt nur auf Einnahmen von 60 Millionen.

Steffi Graf hat Gedichtmotivation bisher noch nicht nötig. Probleme mit ihren Gegnerinnen hatte sie bis dato nicht. Nervös gemacht hat sie eher der alljährliche Kleiderkauf für das „Champions Dinner“, auf dem sie als „Spielerin des Jahres“ geehrt werden wird. Doch diesmal klappte es auf Anhieb. „Nur ein Laden und ein Tag, 1996 dauerte es vier Tage“, teilte sie erleichtert mit. Aber heute trifft sie auf ihre Angstgegnerin Amanda Coetzer. Das Duell steht zwar 13:3 für die Deutsche, doch von den letzten drei Begegnungen hat die nur 1,57 Meter kleine Südafrikanerin mit dem riesenhaften Kämpferherzen zwei gewonnen und dabei der Weltranglistenzweiten kürzlich mit 6:0, 6:1 eine Megapleite in Berlin beigebracht. Steffi Graf ist für die zahlreichen deutschen Tennisfans in Paris wie so oft die letzte emotionale Heimat. Die Tristesse des deutschen Debakels hat sie tief getroffen.

Auch ein plötzlicher Hoffnungsschimmer – der deutsche Paß des Brasilianers Gustavo Kuerten („Ich spreche leider kein Wort Deutsch.“) – ist wie eine Seifenblase zerplatzt. Der 20jährige mit dem Spitznamen „Guga“, der gestern mit einem 5:7, 6:1, 6:2, 1:6, 7:5 gegen Andrej Medwedew (Ukraine) das Viertelfinale erreichte, spielt mit beeindruckender Lockerheit serienweise geniale Schläge und kämpfte aus aussichtsloser Lage sogar Thomas Muster nieder. Doch der Enkel einer deutschen Großmutter spielt weiterhin Daviscup für Brasilien: „Meine Freunde würden mich sonst steinigen.“ Da nutzte auch das Bitten („Boris Becker würde sich freuen.“) der Sport-BILD-Kollegin nichts. Karl-Wilhelm Götte

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