: Anarchie unter Nachbarn
■ Neu im Kino: „Die Strategie der Schnecke“von Sergio Cabera: So wunderschön kann die Rebellion sein
Wenn der herzlose Immobilienhai die Mieter auf die Straße setzen will, dann ziehen diese halt heimlich mit dem Haus um, und lassen dem neureichen Yuppie gerade mal die leere Fassade. Das ist „die Strategie der Schnecke“. Und dieses anarchistische Märchen vom fantasievollen Kampf eines Kollektivs der Armen gegen die Macht des Kapitals erzählt der kolumbianische Regisseur Sergio Cabrera so originell und witzig, daß der Film im ersten Monat in seinem Heimatland mehr Zuschauer anlockte als Spielbergs „Jurassic Park“.
In einem schönen alten Mietshaus in Bogota wohnt eine Hausgemeinschaft, die so sozialromantisch und skurril ist, wie sie sich nur ein nostalgischer Utopist ausdenken kann. Ein alter Anarchist, ein Anwalt, der zu anständig ist, um eine Zulassung zu bekommen, ein junger Revolutionär, ein Transvestit, der abwechselnd als Prostituierte und Automonteur arbeitet, eine religiöse Alte, die einen Fleck an der Wand als Erscheinung Christi anbetet: Diesen Mikrokosmos nannte Gabriel Garcia Marquez „den besten Spiegel Kolumbiens in seiner gesammten Filmgeschichte“. Der Kapitalist (mit dem Handy als Teufelswerkzeug), sein (verdächtig teutonisch aussehender) Handlanger und der bestechliche Bürgermeister sind dagegen so offensichtlich Bösewichte aus der Klischeekiste, daß man sich den ganzen Film über wohlig auf ihre Niederlage freuen kann, die dann auch so demütigend wie nur möglich zelebriert wird.
Aber der größte Teil des knapp zwei Stunden langen Films zeigt, wie die Nachbarschaft zuerst zu einer verschworenen Gemeinschaft wird, und dann mit viel List und Tücke ihre Strategie entwickelt. Der alte Anarchist Jacinto arbeitet als Bühnenbildner und hat deshalb die Idee, alle Innenteile des Hauses nachts mit einem Flaschenzug wie Theaterkulissen hochzuheben und in einem anderen Haus abzusetzen. Romero, der Anwalt, kämpft dagegen an einer anderen Front darum, den Räumungstermin immer wieder um ein paar Tage aufzuschieben. Mal mit einem totkranken Mieter und mal mit vertauschten Hausnummern blamiert er so die Ordnungsmacht, die immer wieder mit ihren Bürokraten und Polizeitruppen abziehen muß.
So schön kann Rebellion sein, denkt man immer wieder bei diesem Stück, das wie eine kolumbianische Mischung aus „Lindenstraße“und politischem Lehrstück wirkt. Der Regisseur Sergio Cabrera war nicht umsonst Rotgardist bei der Kulturrevolution, nachdem er mit seinen Eltern nach China auswanderte, und zurück im Heimatland kämpfte er dann bei der Guerilla-Bewegung. Durch ein paar allzu spezielle politische Anspielungen, die in Kolumbien vielleicht den Nagel auf den Kopf treffen, aber für europäische Zuschauer den dramaturgischen Fluß dämmen, ist der Film etwas zu lang geraten. Aber letzlich gewinnt der gewitzte Erzähler in Cabrera die Oberhand über den politischen Strategen, und deswegen ist sein Film als temperamentvolles und komisches Kinostück zu empfehlen. Und der Mieterschutzbund sollte „Die Strategie der Schnecke“zur Schulung zeigen. Wilfried Hippen
Cinema tägl. 19 Uhr / Originalfassung mit Untertiteln
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