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Zwang zur Werbung

■ Konsumieren statt suchen: Die neuen Surfprogramme von Netscape und Microsoft stellen das Internet auf den Kopf

Schöne neue Online-Welt: Netscape und Microsoft überbieten sich gegenseitig mit Ankündigungen neuer Funktionen ihrer „Browser“, wie die Programme zum Zugriff auf das World Wide Web heißen. Was steckt wirklich hinter dem „Netscape Communicator“, dem Nachfolger des beliebten Navigator, und dem „Microsoft Internet Explorer“ in der zukünftigen Version 4.0?

Vor allem eins: Der Browser der Zukunft löst Probleme. Leider aber nicht die Probleme, die Anwender haben, sondern die Probleme der Firmen, die an den Anwendern verdienen wollen. Gleichzeitig droht die Art dieser Lösungen das Netz in seiner jetzigen Form zu zerstören.

Nicht das Surfen, sondern nur die Werbung war bisher ein Geschäft im Internet. Richtiges Geld kann aber nur mit Werbung gemacht werden kann, die Beachtung findet. Der typische Internet- Surfer klickt sich mal hierhin, mal dorthin durch und taucht zumeist an Stellen auf, wo man ihn am wenigsten erwartet hat. Auch für ihn selbst war das Reiseziel nicht vorhersehbar: Es ist gerade dieses Überraschungspotential, welches das Online-Surfing vom Fernsehen oder Zeitunglesen unterscheidet.

Nur wird bei diesem Vergnügen die bezahlte Werbung schlicht ignoriert. Die Informationsanbieter suchten also nach einem Weg, ihre Inhalte im Netz so zu plazieren, daß sie nicht mehr übersehen werden können.

Die Lösung, die bisher gefunden wurde, besteht darin, den soeben noch gepriesenen Unterschied zwischen Internet und klassischen Einbahnmedien wie dem Fernsehen wiederaufzuheben: Der Surfer klickt sich nicht mehr selbst bis zu einem Netzserver durch, um von dort Informationen abzurufen, sondern erhält sie frei Haus geliefert. Und zwar genau dorthin, wo er sie einfach nicht mehr ignorieren kann: nicht mehr in das beliebig zu verkleinernde oder sogar gänzlich wegklickbare Fenster seines WWW-Browsers, sondern unmittelbar vor seine Nase, direkt auf seinen virtuellen Schreibtisch – den „Desktop“, die Arbeitsoberfläche seines PCs.

Wann kommt der Browser ohne Browser?

Bezeichnenderweise hat man dieses Verfahren „Push“-Technologie genannt – das „Aufdrücken“ einer Information auf den PC- Schreibtisch des Anwenders. Es läuft auf das Konzept eines „Browsers ohne Browser“ hinaus. Anstatt sich auf den engumzäunten Platz in meinem Netscape- oder Explorer-Fenster zu beschränken, übernimmt der Web-Service gleich meinen ganzen Windows-Bildschirm. Welches Programm im Hintergrund die eigentlichen Datenübertragung abwickelt, ist unwichtig und gar nicht oder nur schwer erkennbar. Nur was sichtbar ist, zählt: die Information auf dem Desktop.

Sinnvoll: Die eigene Bildschirmzeitung

Die naheliegende Befürchtung, den eigenen PC mittels Push-Technologie zum zweiten Werbefernsehen umfunktioniert zu sehen, darf jedoch die durchaus sinnvollen Möglichkeiten dieser Form der Informationsvermittlung nicht verschleiern: Ein laufend aktualisierter Nachrichtenticker beispielsweise wäre eine durchaus sinnvolle Erweiterung der Bildschirmfenster. Und tatsächlich gibt es ja auch schon eine große Anzahl Internauten, die sich eine solche Funktion über die eigenständige Software des Online-Nachrichtendienstes PointCast zunutze machen.

Ein solcher Service muß aber noch lange nicht auf den kompletten Windows-Schreibtisch zugreifen. Einer der Vorteile einer grafischen Benutzeroberfläche wie Windows ist ja gerade ihre Standardisierung: Die meisten Anwendungen lassen sich auf eine halbwegs ähnliche Art und Weise bedienen. Selbst da gibt es zuweilen Unterschiede und Programmeigenheiten, die auch PC-erfahrenen Anwendern die Haare zu Berge stehen lassen. Wie soll das erst werden, wenn jeder WWW-Programmierer das Aussehen des Windows-Desktops nach Belieben umgestalten darf? Und was wird mit Mac- und Unix-Anwendern? Dort ist man andere Bedienkonzepte gewohnt. Welches wird zum Vorbild genommen, welche Anwender stehen im Regen?

Alles wird eins unter dem Dach von Microsoft

Der wirklich interessante Punkt in Microsofts „Active Desktop“- Konzept ist jedoch nicht die Push- Technik, sondern die nahtlose Verschmelzung der Internet-Fähigkeiten in die gewohnte Umgebung des Betriebssystems. Ob ich Dateien von meiner eigenen Festplatte oder aus den Tiefen des Internet laden möchte, macht zukünftig keinen Unterschied mehr. Durch seine einzigartige Stellung als Produzent sowohl von Betriebssystem als auch Internet- Browsern kann Microsoft mit seinem „Active Desktop“ etwas erreichen, was Herstellern von Drittsoftware unmöglich ist.

Aber dennoch: Die Funktion des Browsers hat damit noch lange nicht ihren Sinn verloren. Das Programm zeigt WWW-Seiten in einem Fenster an, so wie die Textverarbeitung Texte in einem Fenster öffnet. Beides ist zweckmäßig. Lediglich in einem Firmen-Intranet mag es hilfreich sein, die Informationen auf allen PC-Oberflächen zentral verwalten und steuern zu können, aber für die privaten Rechner von Millionen Anwendern aus aller Welt ist das Konzept nicht ausreichend durchdacht.

Es löst ja auch keine Probleme von Anwendern, sondern von Anbietern. Wer hängt schon mit einer Standleitung am Netz, um interessante Push-Angebote wie aktuelle Nachrichten- und Börsenticker wirklich nutzen zu können – und nicht die wichtigsten Informationen zu verpassen, weil zum Zeitpunkt ihrer Aussendung der eigene PC gerade offline, also vom Netz getrennt war?

Die Favoriten im Abonnement

Viel interessanter für private Nutzer ist daher die Funktion eines WWW-Abonnements: Die Adressen der Lieblingsseiten (je nach Browser „Bookmarks“ oder „Favoriten“ genannt) werden bei der Einwahl ins Netz automatisch abgeklappert. Entdeckt der Browser Neuerungen im jeweiliegen Angebot, lädt er sie auf die lokale Festplatte, wo sie dann auch ohne bestehende Netzanbindung nutzbar sind. Damit steht ein ständig aktuelles Reservoir der jeweils bevorzugten WWW-Services zur Verfügung, ohne daß man deshalb gleich zum inoffiziellen Telekom-Sponsor mutiert. Diese Funktion kann sehr wohl der althergebrachte Browser erfüllen. Entscheidend sind schließlich (noch) die Inhalte und nicht die reine Präsentation.

Zerstört der Krieg der Browser das Netz?

Dies bedeutet wiederum für die Jungs von Microsoft und Netscape: Mehr noch als zuvor kommt es zuvor darauf an, dem Anwender diese Informationen besser zugänglich machen zu können als die Konkurrenz. Und hier liegt nach dem Geschmack der Hersteller noch immer ein bißchen zuviel Freiheit beim Anwender: Was er für die bessere Art hält, entscheidet er heute noch ganz und gar allein. Deshalb ist man dabei, diese Freiheit einzuschränken: Wenn ein gewünschter Service nur von einem der beiden Browser richtig darstellbar ist, hat der Anwender nichts mehr zu entscheiden. Weil sich eine solche Strategie jedoch auf einer standardisierten Grundlage wie HTML (der Computersprache der WWW-Seiten) kaum durchsetzen läßt, sind beide Firmen dabei, diesen Standard nach eigenen Wünschen abzuändern. In ihrem Streben, den jeweils anderen zu übertrumpfen, führen sie regelmäßig eigene Erweiterungen ein.

Daran wäre zunächst einmal nichts auszusetzen – Wettbewerb ist ein Motor der Innovation – würden die Kontrahenten den Standardisierungsprozeß selbst fördern. Zuständig wäre dafür das „World Wide Web Consortium“ (kurz W3C genannt). Tatsächlich reichen sowohl Netscape als auch Microsoft ihre Erweiterungen als Vorschläge beim W3C zur Standardisierung ein – nur warten sie die Entscheidung gar nicht erst ab. Die Neuentwicklungen werden öffentlich so bekanntgemacht, als seien sie längst ratifiziert. Die Industrie soll gar keine andere Wahl mehr haben, als sie zu verwenden.

Die Konkurrenz hat wiederum ihren Standard entwickelt, an dem sie nun ihrerseits festhält. Beide Kontrahenten versuchen nun, Informationsanbieter zur Nuztung ihrer jeweiligen Technik zu bewegen, und bauen die dazu besonders geeigneten Instrumente gleich in ihre Browser ein. Das Resultat sind Varianten derselben Technik, die untereinander absolut inkompatibel sind.

Marktpolitik statt Entwicklung des Netzes

Beste Beispiele dafür sind das Push-Verfahren und das neue „Dynamic HTML“, welches die Auswertung von WWW-Daten seitens des Nutzerrechners (und nicht mehr nur des Servers) erlaubt und gänzlich neue WWW-Anwendungen ermöglicht: Netscapes Browser kann die im Microsoft- Format vorliegenden Seiten nicht anzeigen und umgekehrt.

Dabei wäre die Lösung so einfach: Man sperre die Entwicklungsteams von Microsoft und Netscape gemeinsam in einen Raum ein – mit der Order, einen Kompromiß zu finden. Nach weniger als einer Woche wäre die Technik auf einem gemeinsamen Stand. Doch das wird nicht passieren: Denn beide Firmen legen in ihrem Kampf um Marktanteile weniger Wert auf die Bedürfnisse der Anwender als vielmehr darauf, dem Gegner möglichst großen Schaden zuzufügen. Mark Torben Rudolph

trudolph@compuserve.com

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