Hautfarbe abkratzen

In Australien wurden Kinder von Aborigines jahrzehntelang zwangsweise von ihren Eltern getrennt  ■ Von Marion Menne

Nancy de Vries war 18 Monate alt, als sie von ihrer Mutter getrennt wurde. Sie, Tochter einer Aborigines-Familie, wuchs bei einer Adoptivmutter namens Webster auf, die keine Gelegenheit ausließ, die Aborigines vor dem Mädchen schlechtzumachen. Die heutige Großmutter erinnert sich: „Immer, wenn wir auf der Straße Aborigines sahen, sagte Frau Webster: Guck sie dir an, sind sie nicht dreckig? Sind sie nicht schrecklich? Für mich sahen sie gar nicht so schlimm aus. Ich wäre am liebsten zu ihnen gerannt und hätte gefragt, ob sie meine Mutter kennen. Ich konnte natürlich nicht.“

Nancy de Vries ist kein Einzelfall. Eine großangelegte Untersuchung im Auftrag des australischen Justizministeriums, die Ende Mai der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, geht davon aus, daß seit dem späten 19. Jahrhundert bis ins Jahr 1969 mehr als 100.000 Kinder von Aborigines gewaltsam aus ihren Familien gerissen wurden, um sie in die weiße Kultur einzugliedern – zwischen zehn und dreißig Prozent der indigenen Bevölkerung seien von solcher Zwangstrennung betroffen. Mit dem 700 Seiten dicken Bericht wird erstmals das Ausmaß der Assimilierungspolitik publik, die die Regierung gegenüber den Aborigines betrieben hat.

Die Reaktion der Regierung fiel bislang mau aus. Premierminister John Howard hat die beiden wichtigsten Forderungen des Berichts zurückgewiesen: eine finanzielle Kompensation für die Betroffenen und eine Entschuldigung der Regierung für das Unrecht der zwangsweisen Assimilierungspolitik. Howard entschuldigte sich zwar persönlich, aber nicht offiziell bei den Ureinwohnern. Zuerst müsse der Report untersucht und festgestellt werden, ob eine Entschuldigung gerechtfertigt und von der gesamten Bevölkerung gewollt sei.

„Stolen generation“, gestohlene Generation, nennen sich heute die betroffenen Aborigines, die von der Regierung entweder in staatliche Heime gesteckt oder als Pflegekinder in „zivilisierten Familien“ untergebracht wurden. Von 1915 an hatte ein Gesetz der Aborigines-Schutzbehörde die Macht gegeben, „die Kinder der Aborigines im Interesse ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit in ihre Obhut zu nehmen“.

Jason Field, der maßgeblich an der Untersuchung beteiligt war und mit seinem Team in allen Landesteilen unterwegs war, um Zeugenaussagen und Beweismaterial zu sammeln, formuliert das Ziel so: „Die schwarzen Aborigines sollten von der restlichen Bevölkerung abgesondert werden – mit dem Gedanken, daß sie sowieso bald aussterben würden. Die Mischlinge dagegen sollten der weißen Kultur einverleibt werden. Um jeglichen Kontakt zu vermeiden, wurden die Kinder in andere Gebiete verschafft. Sie sollten lernen, wie Weiße zu denken, zu handeln und auszusehen.“

In den Horten wurden die Mädchen auf eine Ehe mit europäischen Männern vorbereitet, und die Jungen zog man zur harten körperlichen Arbeit heran. Hier lehrte man sie, ihr eigenes Volk zu fürchten und ihre eigene Hautfarbe zu hassen. „Das führte teilweise dazu, daß Kinder versuchten, die Farbe ihrer Haut abzukratzen“, erzählt Field. Seinen Untersuchungen zufolge seien Kinder in den Familien und Heimen nicht selten psychisch ung physisch mißhandelt und sexuell mißbraucht worden: „...und das, obwohl sie von ihren leiblichen Eltern getrennt wurden, weil sie dort angeblich nicht die nötige Pflege und gesundheitliche Versorgung erhielten“, sagt er bitter. Nach Meinung des Kommissionsmitarbeiters habe die Regierung regelrecht Gehirnwäsche betrieben, indem sie der Bevölkerung vormachte, die Kinder müßten vor ihren Eltern, „den Wilden“, geschützt werden.

Di Wellfare wußte nicht einmal, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen geboren hatte – das Kind wurde sofort mit einer Decke von ihr abgeschirmt und weggenommen. Iris Clayton, die auch zur „stolen generation“ gehört, konnte nicht verstehen, warum man sie und ihre Geschwister von zu Hause fortriß: „Wir waren zu neunt. Jemand kam vorbei und meinte: ,Sie können doch nicht allein diese vielen Kinder versorgen, Frau Clayton.‘ Aber wir hatten doch unsere beiden Großmütter und die vielen Onkel und Tanten. Wir halfen uns untereinander und vermißten nichts.“ Iris Clayton wurde als Erwachsene zum zweitenmal Opfer der Separationspolitik. Man nahm ihr alle sechs Kinder. Ihr Sohn, Bruce Clayton- Brown, weiß noch, daß eines Tages eine Polizistin und ein Mann von der Wohlfahrt kamen und ihn und seine Geschwister in eine Missionsstation brachten.

Nancy de Vries, Di Willfare, Iris Clayton und Bruce Clayton- Brown gehören zu den Menschen, die sich der seit 1980 im Bundesstaat Neusüdwales bestehenden Organisation „Link Up“ (Bindeglied) anvertraut haben und an die Öffentlichkeit gegangen sind. Den Mut haben nicht alle. Jason Field erzählt über seine Arbeit, daß es kein Problem gewesen sei, Informanten zu finden, wohl aber, sie zum Sprechen zu bewegen. Die Mitarbeiter von Link Up, die ebenfalls im Kindesalter von ihren Eltern getrennt wurden, haben schon etlichen Betroffenen Beistand gegeben. Alle beklagten, daß ihnen nicht nur Eltern und Familie, sondern daß ihnen ihre Identität genommen wurde. Mittlerweile konnten schon mehr als 10.000 Familien wieder zusammengeführt werden.

Offiziell wurde die Aborigines-Wohlfahrtsbehörde, wie die Aborigines- Schutzbehörde nach 1940 hieß, im Jahr 1969 verboten – und damit auch die Separationspolitik. Doch Jason Field von der Kommission für Menschenrechte weiß von Menschen, die noch in den 70er Jahren verschleppt wurden. Seiner Meinung nach geht die Separation weiter, wenn auch auf subtilere Art. Die modernen Formen seien heute die Kinderwohlfahrt und das Jugendstrafrecht. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international gab jüngst einen Bericht über Todesfälle in Haftanstalten heraus, worin von Verstößen gegen die Menschenrechte und von einer unverhältnismäßig hohen Aborigines-Sterberate in Haftanstalten die Rede ist.

In einer neuen Dauerausstellung des bedeutenden Australischen Museums in Sydney, die über die Kultur der Aborigines informiert, nimmt die „stolen generation“ einen besonderen Platz ein. Betroffene kommen selbst zu Wort und erzählen per Video oder durch symbolhafte Bilder von ihren Erfahrungen und wie sie heute damit leben – ein weiterer Schritt zur Aufklärung über das Schicksal der Ureinwohner Australiens, das so lange Zeit verschwiegen wurde.