Sehnsucht nach Ufjehobenheit

Die Rückkehr des Sozialen in den kulturellen Diskurs. Wolfgang Thierse und Frank Castorf beklagen wachsenden Egoismus und fehlenden Gemeinsinn. Kulturpolitiker sorgen sich um die Überlebensfähigkeit der Kulturstadt Berlin  ■ Von Harry Nutt

Wenn Politiker und Künstler Mitte der achtziger Jahre in der alten Bundesrepublik zu Vernissage und Weißwein aufeinandertrafen, dann schwiegen sie am liebsten würdevoll. Durch die Literatur ging ein hoher Ton, Galerien bebilderten den Hang zur Kunstfrömmelei, und auf den Bühnen stolzierte die Figur des Erhabenen. Geld war genügend vorhanden, zumindest sprach man nicht davon. Das war sie doch, die geistig moralische Wende, die der neue Kanzler ausgerufen hatte.

Wenn Politiker und Künstler heute aufeinandertreffen, dann reden beide, mit kraftvoll monotoner Stimme der eine, brüchig seine Sensibilität intonierend der andere, aber rasch werden sie sich einig: denn die Verhältnisse, die sind nicht so. Am lauen Sommerabend hatte die Sozialdemokratie zum Kulturgespräch in den hübsch ruinösen Biergarten des Pfefferbergs in Berlin-Prenzlauer Berg geladen. „Kultur ist gefordert“ lautete das Thema, und der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse erklärte auch gleich, warum. Der Aufklärungsglaube draußen im Lande ist erschüttert, die Kommunikation instrumentalisiert, die Solidarität dahin. Finsternis allüberall. Kultur, lautete Thierses Appell, solle eine Art Nothelfer sein in kälter werdenden Zeiten. Sie muß ran, weil hochrangige Parteipolitiker zunehmend in einen Zustand von Dissidenz geraten sind. „Wer über Verteilung reden will“, so Thierse, „ist in der veröffentlichten Meinung schnell unten durch.“ Man werde der Sozialstaatsgärtnerei (FAZ) bezichtigt, und gegen eine allerorten propagierte neue Lust an der Ungleichheit komme der redliche Sozialpolitiker nun einmal nicht an. Der Klage eines Unterdrückten konnte auch Volksbühnenintendant Frank Castorf nicht lange widersprechen. Nach einem etwas unausgegoren-vergrübelten Prolog über das Nationale, das so etwas wie Orientierung in die alltäglichen Wirren bringen soll, pflichtete er Thierse bald bei. Kultur sei zum Genußmittel verkommen, Egoismus, Konsumismus und die parasitäre Love Parade der neue Feind. Ein Salongespräch unter Wertkonservativen.

An der allseits praktizierten Attitüde des Schöner-Redens kritisierten in den Achtzigern manche die Ausblendung des Sozialen. Die Lektion ist inzwischen gelernt. Seit einiger Zeit spricht man mit unüberhörbarer Emphase auf den Bühnen von Kulturbrauereien und -foren kaum noch von etwas anderem als den Folgen von Globalisierung, Arbeitslosigkeit und wachsender Armut inmitten des Wohlstands. Bei Castorf zeigt sich die Armut sogar authentisch auf der Bühne.

Seit einiger Zeit spielt die Obdachlosengruppe Ratten 07 an der Volksbühne. Castorf habe aber längst einsehen müssen, daß die Qual der Hoffnung, die man den desintegrierten Akteuren zumutet, womöglich schlimmer ist als das ihnen vertraute Elend. Dem Vorwurf, daß es sich bei seinem Engagement für die Ausgegrenzten um einen raffinierten Werbetrick gehandelt haben könnte, begegnete Castorf mit entwaffnender Selbstkritik. „Vielleicht haben Sie sogar recht.“

Die beiden Kombattanten Thierse und Castorf waren sichtlich gequält vom Unbehagen in der Kultur. Vielleicht löse sich das Soziale sogar auf. Das Sprechen darüber komme ihm, Castorf, jedenfalls schon jetzt unwirklich vor. In einem Anflug von unkontrollierter Nachdenklichkeit offenbarte er denn auch eine wesentliche Triebfeder seines Schaffens: eine „Sehnsucht nach Ufjehobenheit“. Wer hätte das gedacht, die sich bisweilen recht rüde gebende Volksbühnen-Gemeinschaft als schützender Kokon. Der Sinn für Untergangsmetaphorik bestimmte am Montag abend auch ein Podium der Friedrich-Ebert-Stiftung, das im Willy- Brandt-Haus der Frage nachging: „Ist die Kulturstadt Berlin überlebensfähig?“ Wer so fragt, muß am Ende beinahe zwangsläufig zu einem positiven Ergebnis kommen, aber Beifall brandete immer dann auf, wenn die Prognose besonders düster ausfiel. Auch hier eine Art Schiffbruch mit Zuschauern. Kultur sei das zivilisatorische Kleid des Menschen, beschwörte Uta Titze- Stecher, Mitglied des Haushaltsausschusses im Bundestag, die Mitredner. Berlin müsse aufpassen, nicht nackt dazustehen. Lutz von Pufendorf, der neue Berliner Staatssekretär für Kultur, nahm den existentiellen Ton dankend an. Es gehe nicht allein um die Kulturstadt. „Berlin wird nicht überleben, wenn die Kulturpolitik in der Stadt nicht höher bewertet wird.“ Die preußische Metropole habe seit jeher auch von ihren geistigen Ressourcen gelebt.

Während Geld bei Castorf und Thierse nur in seiner Eigenschaft als Verderben bringender Fetisch vorkam, immer starr die Konsumgesellschaft im Blick, bestimmten Begriffe wie Mischfinanzierung, Bundesmittel und Kultursponsoring die Diskussion im Willy- Brandt-Haus. Es müssen beweglichere Rechtsformen geschaffen werden, um die Grundsicherung von Kultur flexibler zu gestalten. Bei der Frage um Verfahrenstechniken, Länder- oder Bundeshoheiten, blieb auch das Soziale nicht außen vor. Von Pufendorf präferierte betriebsbedingte Kündigungen zur Konsolidierung des Kulturhaushalts, während Nikolaus Sander (SPD) Verunsicherung und Verelendung gerade dadurch auf die Kulturschaffenden zukommen sah. Mit schlechter Stimmung ist immer schwerer Kunst zu machen. Gegen Ende strebte von Pufendorf dann aber der Katharsis zu. Das kulturelle Leben in Berlin sei ja nicht völlig verarmt. Alles eine Frage von Kommunikation und Selbstorganisation, ergänzte Frau Titze-Stecher. Wer sich am besten organisiert, der bekommt auch am meisten. So erhielten die Vertriebenenverbände 50 Jahre nach Kriegsende noch immer knapp 50 Millionen Mark Unterstützung, also kaum weniger als die Kulturförderung Berlins durch den Bund. Kultur muß sich mehr um Lobbyismus kümmern. Schweigen macht arm.

Gerede deswegen aber noch nicht reich. Die meiste Klarheit enthielt denn auch ein Zwischenruf beim Gespräch zwischen Castorf und Thierse. Man solle nicht länger Gemeinsinn gegen Egoismus ausspielen. Kunst muß differenzieren, das sei nun einmal ihre Aufgabe. Die Rückkehr des Sozialen in die kulturellen Diskurse ist durchaus zu begrüßen. Bis auf weiteres aber gilt: Kultur ist leichter zu fördern als zu fordern.