: Pragmatismus und roter Stern
Ein „Potsdamer Gespräch“ über Polen, Tschechien und Ungarn zur Frage: „Eigene Wege in Europa?“ Der Wunsch nach Zugehörigkeit ist der Abschied von allen Visionen. György Konrád erstmals als Akademiepräsident ■ Von Jörg Magenau
Politisch ist die Europafrage entschieden. Da waren sich die Diskussionsteilnehmer aus Ungarn, Tschechien und Polen einig. Ihre Länder werden die ersten sein, die die ersehnte Nato- und EU-Mitgliedschaft erhalten werden. „Und wenn wir erst drin sind, in dieser verdammten Union, wird man schon lernen, uns zu akzeptieren“, meinte der polnische Journalist Adam Krzeminski. Mieczyslaw Rakowski, polnischer Regierungschef von 1988 bis 1989, pflichtete ihm bei: „Ihr werdet schon sehen!“
Die rechte Begeisterung aber wollte nicht aufkommen. „Soll ich glücklich sein, daß Tschechien eine bessere Armee erhalten wird?“ fragte der Publizist Antonin Liehm, Herausgeber von Lettre International. „Mich stört, daß man mit dem Volk nicht darüber redet, was ein EU-Beitritt konkret bedeutet. Daß alles von oben entschieden wird. Daß Politiker im tschechischen Fernsehen immer nur unter sich diskutieren.“ Das Volk – Liehm suchte ein passendes deutsches Wort – sei „überstaunt“ und immer noch genauso unpolitisch wie zur Zeit des Kommunismus. Der Ungar György Konrád, neuer Präsident der Berliner Akademie der Künste, pflichtete ihm bei: „Gott bewahre uns vor Visionären!“ Hitler sei ein Visionär Europas gewesen. Die Sowjetunion habe ihre europäische Vision verfolgt. An weiteren divisionsgestützten Visionen besteht folglich kein Bedarf. Um so mehr aber an Diskussionen und am Aufbau einer zivilen Gesellschaft.
Vielleicht liegt es an diesem Überdruß an großen Entwürfen, daß das technokratische, institutionelle Europa mit seiner bescheidenen Gegenwartsfixiertheit in den Ländern des Ostens so attraktiv erscheint und die wachsenden Probleme (Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung etc.) dabei fast keine Rolle spielen. Krzeminski benutzt allerdings genüßlich den im deutschen nicht besonders wohltönenden Begriff „polnische Wirtschaft“, um darauf hinzuweisen, wie glänzend Polen derzeit ökonomisch dasteht. Uneingeschränkt herrscht der Pragmatismus, und das ist ein anderes Wort für Marktwirtschaft. Der rote Stern funkelt derweil bescheiden auf den S.-Pellegrino-Flaschen, die sich auf dem Podium zu Füßen von Karsten Voigt, dem außenpolitischen Sprecher der SPD, sammeln. Die Deutschen entscheiden darüber, wer in die EU kommt, sagt Voigt offenherzig und öffnet die nächste Flasche: „So ist das nun mal.“ Rakowski bedankt sich sarkastisch. Was soll man machen? „Der Kapitalismus hat seine Gesetze. Ich kenne sie. Muß man sich damit abfinden.“ Das entstehende Europa betrachtet er nüchtern als Europa der Egoismen. Jeder denkt an sich, keiner an das Ganze, und gerade dadurch entsteht es. Gefährlich ist in seinen Augen allerdings der polnische Nationalismus, der sich mit Katholizismus und bischöflichen Warnungen vor der Verderbtheit des Westens mischt.
Krzeminski sieht das anders. Er hält die nationalistischen Aufwallungen bloß für ein letztes Aufbäumen des 19. Jahrhunderts, ein „Kostüm“ für etwas, wofür es noch keine Sprache gibt, zwar verbal radikal, aber ohne Einfluß auf die rationale Verhaltensweise Polens. Und die besteht im Drängen nach dem Euro, nach „Zugehörigkeit“, in der Bewegung aus der „Peripherie“ ins „Zentrum“, aus dem Dunkel ins „Licht“. Da kam also doch noch ein bißchen Pathos auf.
Und doch wäre es falsch, nur das Wirtschaftseuropa zu sehen. György Konrád betont im Gegenteil das Primat der Kultur vor Ökonomie und Politik. Nicht das Sein bestimmt das Bewußtsein, sondern das Bewußtsein schafft die Bedingungen für Veränderung. In der Epoche der Aufklärung bildete sich kulturelle Zusammengehörigkeit vor allen staatlichen Allianzen heraus.
Auch im Kalten Krieg waren es die Künstler und Autoren, die die Trennung überwanden und damit die Voraussetzung für ein gemeinsames Europa bewahrten. Wie dies aber aussehen wird, darüber wollte niemand spekulieren. Nicht nur Antonin Liehm gab sich philosophisch zurückhaltend: „Der Mensch kommt in eine Welt, die er nicht versteht. Er verläßt eine Welt, die er nicht mehr versteht. Fragen Sie die 30- bis 40jährigen nach ihren Visionen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen