Angst vor dem Absturz

Der reiche Nordosten Italiens ist in eine Politik- und Sinnkrise geraten. Sezessionismus, Mafia und Korruption belasten die ehemalige Musterregion  ■ Aus dem Veneto Werner Raith

Bis vor einem Jahr war für Bernardo Manfredin noch alles in Ordnung. „Meine Fabrik lief wie geschmiert, Zulieferungen für Benetton oder Ferragamo oder für große Firmen im Ausland kamen, ohne daß wir viel Reklame machen mußten“, erinnert sich der Stoffhersteller aus Udine in Friaul, „aber seit einem halben Jahr geht alles furchtbar zäh. Als hätte jemand den Erfolgsfaden in die Nähmaschine eingeklemmt.“

Bei der Führung durch seine Firma zeigt er auf die vielen grauen Plastikhüllen, die über die einzelnen Maschinen gestülpt sind: „Alle stillgelegt, in der Hoffnung, sie irgendwann wieder einsetzen zu können.“ Die Arbeiter schauen ihren Chef mit einer Mischung aus Unsicherheit und Botmäßigkeit an. „Wenn ich hier auftauche, haben sie Angst, es ginge wieder an Entlassungen“, sagt Bernardo und winkt beruhigend ab – für dieses Mal. Von den vorher 120 Arbeitern und Angestellten – sie werkelten einst im Dreischichten-rhythmus – hat er 45 entlassen müssen, vom Rest arbeitet die Hälfte nur noch in zwei Schichten. „Doch das schlimmste ist, daß man nicht nur nicht versteht, wieso das nun passiert ist, sondern auch, daß man eigentlich selbst gar nicht mehr weiß, was man will.“

Bei den letzten Parlamentswahlen im Mai vorigen Jahres hatte Bernardo wie viele seiner Freunde die Liga Veneto gewählt – „nicht weil wir Umberto Bossi“ – den Führer des gesamten oberitalienischen Ligen-Verbandes – „besonders mögen oder gar für seine rotzigen Abspaltertöne waren, sondern gerade weil wir ihm hier ein gemäßigtes Gegenstück entgegensetzen wollten: Wir wollten einen akzentuierten Föderalismus, nichts anderes. Damit wenigstens etwas von dem Geld, das wir an Steuern bezahlen, hier in der Region bleibt, denn aus Rom kommt ja nie etwas zurück und schon gar keine neue Infrastruktur, die Italien so nötig hätte.“

Tatsächlich bekam die Liga Veneto in ihren Wahlkreisen zwischen Padua, Venedig, Udine und Triest mehr Stimmen als in der Liga-Ursprungsregion Lombardei, und Bossis Sezessionsgeschrei schien sich auch wieder abzukühlen. „Besonders weil wir bei seinem großen ,Unabhängigkeitsfest‘ im September 1996 überhaupt nicht mitgemacht haben“, so Bernardo. Unternehmen wie Luciani Benetton hatten dringend davor gewarnt, „mit allzu blödem Getöne unsere Kunden zu verunsichern“. Daher hatte die „Menschenkette“, die Bossi entlang dem Po aufmarschieren ließ (als „Demarkationslinie gegen den Rest Italiens“), eher wie ein harmloser Spaziergang ausgesehen. Doch das hatte Bossi danach zu noch mehr Geschrei angeheizt.

Bernardo Manfredin setzt sich an den Kopf des Konferenztisches. Er hat knapp zwei Dutzend Freunde eingeladen: einige MittelständlerInnen wie er, zwei Anwälte, zwei Steuerberater, einen ehemaligen Stadtrat, eine Reiseveranstalterin. Was die Anwesenden zu sagen haben, klingt beunruhigend: „Statt Aufträge zu erteilen“, berichtet ein Elektrogerätehersteller aus Treviso, „fragen unsere Kunden jetzt stundenlang, wie sicher denn unsere Gegend noch sei, ob wir pünktliche Lieferung garantieren können, und einige von ihnen sind schon klammheimlich abgesprungen.“ Kopfnicken. Einige große ausländische Chemie- und Metallfirmen haben ihre Filialen bereits aus Oberitalien wegverlagert, die meisten ins südliche Lazium – „weil denen die Betriebssicherheit im Falle zunehmender politischer Spannungen hier im Norden zu stark gefährdet erscheint“. Doch das Problem mit der Unsicherheit seit dem „Überfall“ von acht extremistischen Abspaltern auf die Piazza San Marco von Venedig im Mai ist nur einer der Gründe für die Verwirrung in der bisher so erfolgsgewohnten nordostitalienischen Führungsklasse. „Wir haben ja das vielleicht noch schlimmere Problem der Mafia“, sagt Gianfranco Isotton, Murano-glasfabrikant aus Venedig: „Wo immer wir mit unserer Arbeitswut großen Erfolg haben, hängen sie dran, diese Blutsauger.“ Er zählt auf: „In Bassano erpressen sie die Keramikindustrie, in Vicenza die Juweliere, an der Brenta- Riviera und in Verona die Schuhfabrikanten, in Padua die Pelzgeschäfte, in Valpolicella die Marmorschleifer.“ Die Schutzgeldforderungen sind bereits derart hoch, daß „mehr als ein Drittel des Mittelstandes bereits ans Aufgeben denkt“. Und dabei „hätten wir das alles auch vorhersehen können“, ärgert sich Isotton, „der 1992 ermordete Mafiajäger Giovanni Falcone hatte es uns bereits Mitte der 80er Jahre prophezeit: Wo Wohlstand ist, kommen zuerst die Drogen, danach die große organisierte Kriminalität und dann die Geldwäsche.“

Und dabei hatten die Venezianer geglaubt, sich ohne viel Aufsehen selbst von einer vorangehenden Plage befreit zu haben: der Korruption. Polit-Gewinnler wie der ehemalige Außenminister Gianni De Michelis wurden ins Abseits gestellt und kamen, obwohl sie am Ende keine allzu hohen Strafen erhielten, auch nicht wieder hoch. Statt dessen stellten sich bei den Wahlen untadelige, von keinem Schmiergeldverdacht belastete Nichtpolitiker als Bürgermeisterkandidaten zur Verfügung und wurden mit überwiegend satter Mehrheit gewählt, wie etwa in Triest der mittelständische Kaffeefabrikant Riccardo Illy oder in Venedig der Philosophieprofessor Massimo Cacciari.

Doch dann mußte Anfang 1997 die 1992 in Venedig eingerichtete Dependence der zentralen Antimafiapolizei DIA erweitert werden, zum dritten Mal: Vor fünf Jahren hatte die DIA mit zwei winzigen Zimmerchen angefangen: Die Leitung in Rom wollte in jeder Region ein eigenes Büro haben, konkrete Anhaltspunkte für große Mafiageschäfte gab es damals hier noch nicht. Mittlerweile bearbeiten mehrere hundert Staatsanwälte und Polizisten die Verbrechen der Mafia und der Camorra. Denn nicht nur Schutzgelder werden hier eingezogen, „die kaufen sich reihenweise in unsere Firmen ein“, weiß Ginacarlo Isotton, „mit dem einzigen Ziel, ihre schmutzigen Gelder zu waschen und mit unserem sauberen Namen ohne Aufsehen an der Börse spekulieren zu können“.

Mehr als 40 solcher Fälle sind allein seit Jahresbeginn von der DIA aufgedeckt worden, Umsatzssumme umgerechnet nahezu eine Milliarde DM. „Und das verunsichert unsere Kunden noch mehr als diese Idioten von der Sezession“, fügt Isabel Buttoni, die Reiseveranstalterin, hinzu: „Jede Gewalttat, die geschieht, jeder Bericht über die Präsenz der Mafia hält nicht nur Touristen vom Kommen ab, sondern mehr und mehr auch die Geschäftsleute.“

Sie weiß, wovon sie spricht: kreativ wie die Nordostler nun mal sind, hatte sie eine Marktnische besetzt. Sie hatte in ganz Europa und in Amerika an Fachtagungen teilgenommen – von Chirurgen bis zu Kondonherstellern, von Software-Anbietern bis zu Motorradfabrikanten – und dort jeweils zu günstigen Preisen Reisen ins Veneto angeboten, bei denen man „mögliche Geschäftsfreunde“ kennenlernen konnte. Die Frauen oder Freundinnen durften kostenlos mit. „Da konnte ich jahrelang gar nicht mehr alle Nachfragen befriedigen.“ Doch jetzt ist Schluß. Isabel muß sich, notgedungen, nun um eine südamerikanische Filiale kümmern, die als einzige noch etwas abwirft. Dorthin wird sie möglicherweise ganz übersiedeln.

Vorbei die Zeiten, in denen die EU-Kommission feststellen konnte, daß der italienische Nordosten zu den 15 reichsten Regionen Europas zählte: „Wir hatten ein Bruttosozialprodukt nahe dem von Bayern, Katalonien oder dem Rhonetal“, erzählt Bernardo Manfredin am Tag danach auf der Fahrt von Udine nach Padua, wo er einer weiteren Krisensitzung beiwohnen will. „Da schauen Sie“, er zeigt auf die riesigen Industrieanlagen auf der Fahrt zwischen Mestre und Rovigo, „das alles ist bereits zu einem Fünftel ungenutzt“, und das unabhängig von der Stahlkrise oder dem Verlust einiger wichtiger Zulieferungsmärkte nach dem Kollaps des Ostens. „Ein Teil wird erst jetzt stillgelegt, obwohl alles modernisiert ist. Viele der Aufträge gehen inzwischen nach Sizilien oder in andere Länder.“ Natürlich ist nicht nur die Sezession und die Mafia an alle dem schuld. „Die europäische Krise ist halt so hartnäckig, daß auch wir nun an der Reihe sind, obwohl wir uns lange Zeit mit unseren hochrentablen, weil flexiblen Mittelstandsbetrieben noch halten konnten.“

Doch wohin die Reise nun gehen kann, davon hat hier niemand eine Ahnung. „Das Schlimme“, sagt Agostino Atanasio, der uns in Rovigo in seiner Käserei empfängt, „das Schlimme ist, daß wir nicht einmal wissen, was wir uns wünschen sollen: Alle sagen, die Los-von-Rom-Bewegung der Sezessionisten macht uns in Europa unglaubwürdig. Aber kann es nicht auch sein, daß die Sezessionisten unser Italien am Ende wirklich politisch renovieren, etwa so, daß ein Bundesstaat herauskommt wie der in Deutschland, wo die Verwaltung doch bürgernäher scheint als in unserem strammen Zentralismus?“ Bernardo Manfredin tippt mit die Fingerknöcheln auf die Auftragsbücher im Wandregal seines Freundes: „Sehr langfristig, kann sein. Aber du und ich, wir überstehen das nicht, das sage ich dir. Denn weder wird sich Rom sein Oberitalien nehmen lassen, noch werden diese Sezessionisten sich Rom wieder unterwerfen. Was auf uns zukommt, ist wirklich nicht die Wahl zwischen dem einen oder dem anderen. Es wird Zersetzung, Niedergang, vielleicht gar Bürgerkrieg geben. Glaub es mir.“

Milchverwerter Atanasio ist nicht so pessimistisch: „Ich hoffe, en Ende löst sich dann alles doch ,all'italiana‘ auf“, meint er mit einem Lächeln, das wohl mehr Unsicherheit als Charme aufweist: „Wir nehmen doch den Mund sowieso immer zu voll, ich denke, auch die Sezessionisten kochen nur mit Wasser, es wird schon nicht so wild kommen. Wir Italiener sind so.“

Merkwürdige Worte für einen Menschen aus dem Norden – sonst sagen die Nordstaatler diese Eigenschaft des bloßen Schwätzens nur den Südlichtern nach. Hier aber, so scheint es, wird der oft beklagte Defekt geradezu zur Hoffnung.