: Der Zarenzögling mit reiner Weste
Seit 100 Tagen kämpft der junge Vizepremier Boris Nemzow gegen Korruption und alte Seilschaften. Trotz unpopulärer Maßnahmen hat er gute Chancen, Jelzin zu beerben ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
„Ich sitze auf dem Düsenjäger und leite die Operation, um Jelzin aus den Fängen des Tschetschenenführers Dschochar Dudajew zu befreien“, erzählt Boris Nemzow. Es war einer seiner exotischeren Träume. Warum gerade auf dem Jet? Darauf kann sich Rußlands junger Vizepremier auch keinen Reim machen.
Mochten Analytiker nach einer Deutung suchen, Jelzin hatte erfaßt, worum es geht. Im März holte er den 37jährigen Gouverneur aus Nischnij Nowgorod nach Moskau und ernannte ihn zum Vizepremier. Beim Bewerbungsgespräch vertraute Boris seinem Günstling an: „In einem Verbrecherstaat will ich nicht leben.“ Woraufhin der Jüngere sich entschloß, dem guten Zaren im Kampf gegen die Banditen beizustehen. So kolportiert Nemzow die Begebenheit.
„Ein richtiger russischer Zar mit allen Vor- und Nachteilen, aber ein guter“, charakterisiert Nemzow den Präsidenten. Nachzulesen ist dies in seinem Buch „Der Provinzler“, das in jenem Moment in die Buchgeschäfte gelangte, als er das Moskauer Amt antrat. Es ist eine heitere Sammlung von Einschätzungen, Erfahrungen und vereinzelten Träumen, die auf einem ausführlichen Interview basieren.
Der smarte Provinzler gehört schon seit Jahren zum engsten Kreis der politischen Elite. Seine Laufbahn begann eher zufällig. Nach der Tschernobyl-Katastrophe 1986 engagierte sich der Physiker in einer Anti-AKW-Initiative, der es gelang, den Bau eines Atomkraftwerkes in der Nähe von Nischnij Nowgorod zu vereiteln. Nicht ohne Hintergedanken hatte „Großvater“ Jelzin Nemzow 1994 schon einmal die Nachfolge angetragen. Damals winkte dieser dankend ab. Er überstürzt nichts und weiß seine Kräfte einzuschätzen. Das hat er in Nischnij bewiesen, wo er 1991 zum Gouverneur gewählt wurde. Unter seiner Ägide reifte die Stadt zu Rußlands modellhaftem Reformlaboratorium heran. Westliche Banken gewährten großzügigere Kredite, die ihre Adressaten auch erreichten. Die Region Nischnij zählt zu den wenigen, die nicht am Moskauer Finanztropf hängen und sogar etwas zum Staatshaushalt beitragen. 1995 bestätigten die Wähler Nemzow mit einer komfortablen Mehrheit von sechzig Prozent im Amt. Im Tausch für den Wechsel in die Regierung rang Nemzow Jelzin das Versprechen ab, ihn in den nächsten zwei Jahren einfach machen zu lassen. Der Alte willigte ein und ernannte ihn noch zum Energieminister und Chef einer Antimonopolkommission. Der flächendeckenden Korruption soll er den Garaus machen, die Monopolherrschaft der Giganten in der Rohstoff- und Energiewirtschaft brechen und die Kommunalwirtschaft sanieren.
Kaum ein Tag verstreicht, an dem der Vizepremier nicht einen effektvollen Auftritt im Fernsehen hätte. Genüßlich zeigen die Kameras, wie die schwarzgelockte Frohnatur einer Versammlung von satten Generälen die Leviten liest und sie am Ende der Unwahrheit überführt. Die hohen Militärs können nicht erklären, warum Soldaten nichts zu essen haben, obwohl die Auftragsbücher nur das Feinste ausweisen? Der Vizepremier verfügte öffentliche Ausschreibungen, um den Finanzmachinationen der Armee mit Verpflegungsgeldern einen Riegel vorzuschieben. Bisher mit mäßigem Erfolg.
Seiner Popularität tun Rückschläge keinen Abbruch. Es fällt schwer, den lächelnden Draufgänger nicht zu mögen. In der öffentlichen Gunst hat er Spitzenreiter General Alexander Lebed längst abgelöst. Dessen reine Weste trägt nun er. Kaum in Moskau angekommen, ordnete er an, die Staatsbediensteten von Mercedes- und Audi-Limousinen auf „vaterländische“ Kraftfahrzeuge umzusetzen. Auch darin ist er seinem Vorbild Jelzin sehr ähnlich. Ein bißchen Populismus muß sein. Selbst auf die Gefahr hin, daß es sich wirtschaftlich nicht rechnet. Doch beim Durchschnittsbürger verfängt die Losung, vor allem wenn sie frech verpackt wird: „Sollen die Bürokraten doch mit ihrem Hinterteil spüren, wo sie leben!“
Der promovierte Physiker ist kein unbeugsamer Theoretiker, wenn die Praxis andere Lösungen erfordert. Er bekennt sich zur Marktwirtschaft, sein Idol ist Margaret Thatcher. Allerdings plädiert er für einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“, der den Staat nicht auf eine Zuschauerrolle beschränkt.
Sein Erfolg in Moskau steht und fällt mit Jelzins Schützenhilfe. Derzeit reitet der Vize im Tandem mit dem anderen jungen Vizepremier Anatolij Tschubais eine Attacke gegen die Rohstoffestung „Gasprom“. Der Energiemonopolist, der Förderung und Vertrieb von Gas und Öl kontrolliert, diktiert nicht nur überhöhte Preise. Er führte auch keine Steuern ab. Vorteilhafte Verträge zwischen den Industriebossen und der Regierung aus dem Jahr 1993, die den Direktoren lukrative Aktienanteile sicherten, schimpfte Nemzow „Diebstahl“. Er kündigte sie auf. Die erste Steuerrate von Hunderten Millionen Dollar ist unterwegs.
Die Unverfrorenheit und Furchtlosigkeit Nemzows scheinen Jelzin zu amüsieren, obwohl die Kritik eigentlich auch ihm gilt. Schon einmal hatte ihn der Enkel in der Öffentlichkeit brüskiert. Anfang vergangenen Jahres überbrachte er dem Präsidenten eine Million Unterschriften aus Nischnij gegen den Krieg in Tschetschenien. Das Verhältnis kühlte ab, doch keiner kündigte es auf.
Der erste Angriff gegen Gasprom verlief wunschgemäß. Premierminister Wiktor Tschernomyrdin, einstmals Chef des Energiekonzerns und danach über Jahre dessen Lobbyist, leistete zunächst erbitterten Widerstand. Dann trat der Mann fürs Stete vorsichtig den Rückzug an. „Haben Sie keine Angst vor den jungen Leuten, die wollen Sie nicht stürzen“, beschwichtigte Jelzin übers Radio den Premier. Dennoch deutete der Kreml-Herr den Wunsch nach einem Generationswechsel an. Wiktor Tschernomyrdin hatte sich schon Chancen auf die Thronfolge ausgerechnet.
Genauso Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow. Noch vor Jahresfrist hatten er und Nemzow ein Konzept zur Kommunalreform ausgearbeitet, um die immensen Kosten in der Wohnungswirtschaft zu senken. Nemzow möchte das nun in die Tat umsetzen. Ausgerechnet Luschkow schwingt sich jetzt zum schärfsten Kritiker auf. Womöglich hat der Vizepremier deshalb noch keine Aufenthaltserlaubnis, ohne die sich keiner in Moskau niederlassen darf. „Ich bin ein Obdachloser“, schmunzelt Nemzow. Frau und Tochter dürfen noch nicht zu ihm, sie warten in Nischnij Nowgorod.
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