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Aufrechter Gang

■ Die evangelische Kirche nach 1945 - zivil und zivilisierend

Zu den glühendsten Anhängern des Führers gehörten unter dem Nationalsozialismus evangelische Würdenträger. Vielen war Hitler gottgleich. Schon 1933 ließen es die deutschen Christen an aufmunternden Begleittexten zum Gelingen des Tausendjährigen Reiches nicht fehlen. Nur wenige Protestanten – wie die aus der Bekennenden Kirche oder der Theologe Dietrich Bonhoeffer – leisteten Widerstand gegen die Gottlosen.

Um so heftiger fiel nach 1945 der Wille zur Buße aus. In der Stuttgarter Erklärung der Evangelischen Kirche vom 19. Oktober des letzten Kriegsjahres heißt es: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Und: „Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt haben.“

Der laue Tonfall verblüfft heute, weil er unterstellt, daß es lediglich an Courage gefehlt habe. Doch vor gut fünf Jahrzehnten wirkte die Erklärung in der Tat mutig und wie ein Gelöbnis, daß die Führergläubigen (auch innerhalb der Kirche) künftig nicht mehr mit Freundlichkeiten zu rechnen haben. Anfang der fünfziger Jahre begannen Christen wie Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer konkret, die Mitschuld der Kirche am Nationalsozialismus zu thematisieren.

Die Evangelische Kirche sollte – und wollte – das Ihre tun, einer neuerlichen „Verführung“ der Jugend vorzubeugen. Durchaus eigennützig half sie, eine demokratische Öffentlichkeit zu etablieren – mit der Gründung von Presse-, Film- und TV-Diensten. Das Motto könnte mit dem heute geläufigen, aber damals undeutschen Credo des „Aufrechten Gangs“ beschrieben werden.

So rief 1958 die evangelische Kirche die „Aktion Sühnezeichen“ ins Leben, eine Organisation zur Wiedergutmachung des Unrechts, das durch Deutsche im Zweiten Weltkrieg begangen wurde. Die Kirche war damit die erste Institution in der Bundesrepublik, die, wenn auch leise, den Konsens der Wirtschaftswunderjahre („Keine Experimente“) in Frage stellte. Kirchentage spielten dabei eine zentrale Rolle, sie waren, so erinnert sich Carola Wolf, langjährige Pressesprecherin der alle zwei Jahre stattfindenden Mammutveranstaltung, „stille Übungen im demokratischen Umgang“.

Und zugleich Orte des Experiments: Lange bevor die öffentlichen Rundfunkanstalten ihre Wellen für einst verpönte Musikstile wie den Jazz freigaben, boten Kirchentage ein Forum, auf dem fast alles erlaubt war, nur keine Haltung der Ignoranz. Das Brandtsche Versprechen „Mehr Demokratie wagen“, an dessen Umsetzung die Jugendgeneration der 68er ob der bleiernen deutschen Zustände verzweifelte, ist der Kodex, der auf allen Kirchentagen seit Anfang der fünfziger Jahre gilt.

Der Geist des nach dem Zweiten Weltkrieg gültig werdenden innerkirchlichen Konsenses, nie mehr nur mitmachen zu wollen beim Geschäft der Thronhalter und Regierungen, griff so schließlich auf alle Bereiche über, die im Laufe der knapp 50jährigen Geschichte der Bundesrepublik (und später auch der der DDR) wichtig werden sollten. Es war die evangelische Kirche, die den studentischen Protest am Ende der sechziger Jahre nicht als Rebellion von „Gammlern, Pinschern und Uhus“ (Bundeskanzler Ludwig Erhard) abtat, sondern dessen Anliegen 1969 auf dem Stuttgarter Kirchentag munter debattierte. Von dort aus wurde der Protest gegen den Vietnamkrieg in gesellschaftliche Bereiche hineingetragen, die die metropol orientierten Studenten nie erreicht hätten.

Wie auch bei dieser Debatte wird auch bei anderen Fragen das gleiche Muster sichtbar: Zunächst verhält sich das Kirchenvolk wie das deutsche Durchschnittsgemüt – abwehrend. Da jedoch innerhalb der Gemeinden, aber vor allem bei Kirchentagen Offenheit zu den höchsten Tugenden zählt, wächst die Bereitschaft, sich mit fremden Themen auseinanderzusetzen, quasi automatisch. Womit jene, die entsprechende Anliegen vortragen, objektiv schon gewonnen haben. Und wenn der Rest der Gesellschaft längst müde geworden ist, sich mit dem Neuen zu befassen, bleibt die Kirche am Ball – als demokratische Avantgarde.

Nicht zuletzt dokumentiert sich das auf einem Kirchentag, der vor allem einer der christlichen Jugend ist und einer der kommenden Funktionäre des Kirchenapparates. Ob in der Frage des Antisemitismus, in der zur Aussöhnung mit den Juden, beim Feminismus oder in der Haltung zu alternativen Lebensformen (Stichwort: Homosexualität) – Christen in der evangelischen Kirche hielten die Themen auch dann noch warm – auf Kirchentagen allenthalben –, als andere gesellschaftliche Institutionen wieder in den Schlaf der Gerechten verfallen waren.

Politisch wirkte sich diese Mentalität mehrmals aus. Ohne die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Ostpolitik hätte die SPD sich auch 1969 kaum gegen den christliberalen Block durchsetzen können. Auch das Engagement zum Paragraphen 218 – das vorgeburtliche Leben ist heilig, aber die Frau soll über eine Abtreibung selbst entscheiden – trug schließlich dazu bei, die drakonischen Strafvorschriften zu mildern. Die Friedensbewegung wäre ohne evangelische Christen – und ihre jahrelange Arbeit für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung – nicht so hegemonial bis weit in die christdemokratischen Kreise hinein geworden. Auch wenn die Nato-Nachrüstung schließlich durchgesetzt wurde, ist seither der Gedanke, daß politische Konflikte mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden könnte, bei den meisten Menschen diskreditiert.

Heute ist die evangelische (neben der katholischen) Kirche die einzige Institution in der Bundesrepublik, die Flüchtlingen im Falle ihrer drohenden Abschiebung Asyl gewährt, nötigenfalls über geltendes Recht hinweg. Auch der Bereich moderner, alternativ-familiärer Lebensformen gehört zur Agenda in den Gemeinden.

Schließlich aber zeigte das im Februar veröffentlichte „Sozialwort der Kirchen“, was Christen in diesem Lande in den nächsten Jahren besonders am Herzen liegen wird: eine Gesellschaft, die nicht nur nach neoliberalem Gusto funktionieren möge, sondern auch andere Werte als den Götzen Geld kennt; ein Land, das nicht im unteren Viertel verarmen soll; eines also, das den Ansprüchen eines Gemeinwohls im christlichen Sinne genügt. Insofern ist das Motto des Leipziger Kirchentages klug, weil mit Blick auf kommende Auseinandersetzungen gewählt: „Auf dem Weg der Gerechtigkeit“. Jan Feddersen

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