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■ Nach dem Jahrhundertfund in der JettenhöhleEine Region dreht durch

Es begann mit einer Zeichnung, die der Schüler Tobias Gebhards (9) aus Bad Lauterberg am Ende einer Zeichenstunde abgeliefert hatte. Das Bild, erklärte der Drittkläßler, zeige eine Hirschjagd. Als Vorbild nannte er eine Zeichnung, die er beim Spielen in einer Höhle im Wald gesehen habe.

Die Lehrerin war „sofort wie elektrisiert“. Nachforschungen ergaben, daß es sich um die Jettenhöhle handelte. In diese kleine südwestniedersächsische Höhle hatten bis vor kurzem allenfalls Heimatforscher und Sonntagsspaziergänger ein Auge geworfen. Die bescheidenen Ausmaße der nur etwa 600 m langen, von Erdfällen, Schlotten und Karstkegeln umgebenen Jettenhöhle und ihre beschauliche Lage, in der Nähe des Dorfes Düna, zwischen Osterode und Herzberg, ließen nicht darauf schließen, daß hier sensationelle Entdeckungen zu machen seien.

Mit der Beschaulichkeit ist es nun vorbei. „Das ist der bedeutendste kunsthistorische Fund seit Jahrzehnten“, schwärmt Dr. Wilhelm Pohl vom Niedersächsischen Amt für Bodenkunde. „Nach ersten Schätzungen stammen diese Höhlenzeichnungen aus der Mittelsteinzeit. Das ist einmalig. Was das für die Forschung bedeutet, ist überhaupt nicht zu ermessen.“

Zur Zeit untersuchen Spezialisten vom Archäologischen Institut der Universität Hannover die rätselhaften Zeichnungen. Neben den Hirschjagdszenen haben die mesolithischen Künstler auch eine Reihe von Gebrauchsgegenständen abgebildet, die man bislang eher den Menschen der Jungsteinzeit zugeordnet hatte.

Die rund 10.000 Jahre alten Zeichnungen haben bereits internationales Aufsehen hervorgerufen. Aus aller Welt treffen Anfragen von Archäologen und Kunsthistorikern ein. Viele haben sich auch schon auf gut Glück in Bewegung gesetzt. „Wir sind hier ein bißchen überfordert mit der ganzen Publicity“, berichtet Dr. Pohl, der in Göttingen ein Pressebüro eingerichtet hat. Von dort aus sollen die zahllosen Bitten von Fernsehteams um Dreherlaubnis koordiniert werden: „Wir können ja jetzt nicht jeden einfach in der Höhle herumtrampeln lassen. Diese Zeichnungen gehören zum Weltkulturerbe, da müssen wir uns schon schützend davorstellen.“

Für die Auswertung des Jahrhundertfunds veranschlagt man mindestens zwei bis drei Jahre. „Im Interesse des Fremdenverkehrs wäre es sicherlich wünschenswert, wenn man die Höhle danach der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen könnte“, führt Dr. Pohl aus. „Andererseits gehört so ein Schatz aus dem Weltkulturerbe nicht in die Hände irgendwelcher Waldschrate und Landeier. Jedenfalls werden wir in aller Ruhe prüfen, ob die Höhle nicht in ihrer Gesamtheit abgetragen und in zivilisierter Umgebung wieder aufgebaut werden kann.“

Schon jetzt überfordert die Zahl der Schaulustigen die Kapazitäten der Region. Erst am Sonntag hat die Polizei ein wildes, in geringer Entfernung von der Höhle errichtetes Zeltlager von Angehörigen der Geschichtswerkstatt Braunschweig geräumt. Eine Bürgerinitiative aus dem nahe gelegenen Hattorf hat für morgen zu einem Schweigemarsch aufgerufen. Unter dem Motto „Wem gehört die Jettenhöhle? Uns!“ wollen die Veranstalter ihrem Unmut darüber Luft machen, daß den Anliegern der Zutritt zur Höhle verwehrt wird, „während man sogar Neger hineinläßt“, wie es in dem Aufruf heißt. Damit bezieht sich die Bürgerinitiative offensichtlich auf eine Inspektion, die von einem Expertenteam der Unesco in der Höhle durchgeführt worden ist.

Die Stimmung ist explosiv. Es ist eine Mischung aus Goldgräber- und Pogromstimmung. „Die schaffen es noch, daß hier der Notstand ausgerufen werden muß“, klagt Dr. Pohl. Um das Maß voll zu machen, hatte der Fotoreporter einer bekannten Boulevardzeitung in der Nacht zum Dienstag vor dem Höhleneingang eine Blendgranate gezündet und versucht, sich im Durcheinander Zutritt zu der Höhle zu verschaffen. Der Mann konnte verhaftet werden.

Seit kurzem macht auch das Gerücht die Runde, daß die Experten auf eine plumpe Fälschung hereingefallen seien. Der Deutschen Presse-Agentur liegt das Bekennerschreiben eines anonymen Absenders vor, der angibt, die Hirschjagdszenen vor einem halben Jahr mit Autolackspray aufgetragen zu haben – eine Theorie, der Dr. Pohl keine Bedeutung beimißt. „Da will sich doch nur einer wichtig machen“, wiegelt er ab. „Langsam frage ich mich, ob hier nur Verrückte leben.“

Restlos glücklich über den Gang der Dinge ist momentan wohl nur Tobias Gebhards. Seit seinem Auftritt in den „Tagesthemen“ platzt sein Sparschwein aus allen Nähten: Der Stern hat die Exklusivrechte an der ungelenken Zeichnung erworben, die den ganzen Rummel ausgelöst hatte. „Ein van Gogh wäre uns zwar teurer gekommen“, teilte die Redaktion auf Anfrage mit, „aber auch für einen Gebhards mußten wir tief in die Tasche greifen.“ Gerhard Henschel

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