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Swinging Berlin, Hauptstadt des Jazz

■ Ebenso wie in den zwanziger Jahren und nach dem Krieg im Ostteil der Stadt boomt die Jazzmusik in Berlin. Kleine Klubs haben den großen Festivals längst den Rang abgelaufen

Für manche ist eine Mystifikation, für andere ist es normal und doch auch wieder Idealzustand. Es gibt nichts daran zu rütteln – Berlin ist wieder Jazz-Hauptstadt. Keine andere Stadt kann mit so einer vielfältigen Jazzszene aufwarten. Ein Festival löst das andere ab, Dutzende neuer Klubs haben sich nach dem Mauerfall etabliert, die Zahl einheimischer, guter und professioneller JazzinterpretInnen ist Legende und ständig kommen neue zugereist. Wer als Jazzkünstler durch Europa tourt, muß hier auf die Bühne.

„Die Stadt hat einen juwelenartigen Glanz, die riesigen Cafés erinnerten mich an Ozeandampfer, die vom Rhythmus ihrer Orchester angetrieben werden. Überall war Musik“, schrieb Josephine Baker, als sie 1925 Berlin besuchte. Berlin swingte schon damals nach den Rhythmen und Melodien einheimischer und international bekannter KünstlerInnen. In der „arischen Kultur“ der Nazis wurde diese Kunst der Improvisation zwar argwöhnisch beäugt. Zerstören konnte sie Goebbels nicht. Die Hexenjagd gegen alle, die „Juden- Jazz“ spielten und somit die „Sabotage deutscher Kultur“ betrieben, ging weitgehend ins Leere. Ein Grund war, daß die „Säuberungen“ innerhalb der solidarischen Jazzszene schlecht funktionierten.

Während im Ostteil der Stadt nach 1945 der Jazz phasenweise den Ton angab, pflegte der Westen die Jazzmusik und ihre unverwüstliche Subkultur mäßig. Um so mehr lebt heute beides heftiger denn je wieder auf. Kaum hat der Jazzfan dieser Tage die rauhe, erdige Kreuzberger „Jazzmeile“ hinter sich gebracht, erwartet ihn schon der „Jazz in July“. Topstars des Jazz sind hier zu Gast. Wer dachte, daß mit dem Gig des Saxophonisten James Carter im Tränenpalast der Konzerthöhepunkt 1997 erreicht war, wird sich schleunigst eine Karte besorgen müssen, um dann in diesem Monat Branford Marsalis und sein HipHop- Projekt auf der Bühne des „Quasi“ zu bewundern. Allein im Juli warten die Veranstalter mit Stars wie Maceo Parker (1. 7.), Bill Evans (6. 7.); Howard Johnson (10. 7.); Paquito d'Rivera (19.–20.7.), Benny Green (17. 7.) und vielen anderen auf. Auch die von den Stilrichtungen sehr unterschiedlichen Altstars Archie Shepp (14. 7.) und Clark Terry (11. 7.) werden das Quasimodo füllen.

Internationale Stars oder nicht – die lokale Berliner Szene swingt täglich in Dutzenden von Klubs. „Neighbourhood“ ist angesagt. Fast jeder Stadtteil hat mehrere Klubs, in dem sich die Fans treffen. Bemerkenswert daran ist, daß all dies lebt und bebt aufgrund privater Initiativen und hohen wirtschaftlichen Risiken, die die Organisatoren, Veranstalter und Betreiber der Lokalitäten eingehen. Die Shows in den Klubs haben das große „Berliner Jazzfest“ an Attraktivität seit langem übertroffen. Bedenkt man die erheblichen Geldmittel und die Logistik, die dem künstlerischen Leiter Albert Mangelsdorff für die Großveranstaltung zur Verfügung stehen, und betrachtet dann das magere Programm an „Senats-Jazz“ der letzten beiden Jahre, möge man sich damit trösten, daß die Jazzszene Berlins schon härtere Zeiten durchgestanden hat.

Sichtbar wird, daß alte Strukturen hörbar rosten und die Szene auf Erneuerung setzt. Überzeugendstes Beispiel: Als einzige Stadt Europas kann in Berlin Jazz rund um die Uhr im Radio gehört werden. „JazzRadio 101.9“ heißt das kleine Wunder, das auf einem hart umkämpften Markt den Spagat zwischen hohem inhaltlichen Anspruch und dem Kampf um die vitalen Werbeeinnahmen seit zwei Jahren vollbringt.

Der Jazz boomt. Ob das an der veränderten politischen Situation in der Stadt liegt, oder ob Jazz vielleicht eine Musik ist, die ihre großen Zeiten hauptsächlich während schwieriger politisch-ökonomischer Zeiten hat – diese Frage wäre sicherlich eine sozial-wissenschaftliche Untersuchung wert. In Berlin wird es jedenfalls auf längere Zeit weiter swingen – high and low – so oder so. Jürgen Becker

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