■ Multikulti-Presse: Identität qua Internet?
Eigentlich hätte der Berliner Wolfgang Lehmann vom Verwalten seiner Häuser ganz passabel leben können. Aber die Vorliebe, im Internet zu surfen, hat ihn zum Herausgeber einer spanischsprachigen Zeitschrift gemacht.
Als im Dezember letzten Jahres die japanische Botschaft in Lima von einer Handvoll Guerilleros besetzt wurde, begann der Familienvater, nach eigener Aussage nur rudimentär des Kastilischen mächtig, peruanische Zeitungsartikel zum Geiseldrama aus dem Netz zu fischen und unter seinen lateinamerikanischen Freunden zu verteilen. Die Nachfrage war enorm, denn noch immer wird der Kontinent in der Presse diesseits des Atlantiks stiefmütterlich behandelt.
Lehmann entschloß sich, den Hunger nach Informationen aus erster Hand zu stillen: Im Frühjahr sammelte er ein illustres Grüppchen Lateinamerikaner in seiner Wohnung in Berlin-Mitte und begann ab April monatlich den ch6squi herauszugeben. Zur Hälfte besteht das Blatt „von Latinos für Latinos“ nach wie vor aus Artikeln aus dem Internet. Weiterhin berichtet es über kulturelle Aktivitäten der potentiellen Zielgruppe in Deutschland. Die Themenauswahl ist dabei gewollt disparat, man will für alles und jeden offen bleiben. So finden sich Berichte über Ausstellungen kolumbianischer Künstler neben einem Feature zur Situation der Frau in Lateinamerika, Artikel über die argentinische Revolution von 1810 oder über ein peruanisches Naturschutzgebiet stehen neben Aktivitäten von hiesigen Kulturvereinen.
Eine feste Größe ist allein die Sportberichterstattung. Sie nimmt immer mehr Platz in dem schmalen Heftchen ein und enthält sowohl die begehrten Fußballergebnisse vom Heimatkontinent als auch ein Porträt des F. C. Los Inkas, der scheinbar in der Liga der TU Berlin ein bisher unverdientes Schattendasein führen mußte.
„Der ch6squi ist ein Ort, um sich zu treffen“, beschreibt Redakteur Luis Fayad das Motto. Beim „offenen Dialog mit den Deutschen“ wollen die Lateinamerikaner allerdings Gastgeber bleiben. „Denn immer, wenn wir Projekte mit Deutschen gemeinsam gemacht haben“, so der kolumbianische Schriftsteller, „sahen wir uns am Ende an den Rand gedrängt.“
Die 70jährige „Mutter der Redaktion“, Señora Raquel Sanudo, will „möglichst breit informieren, ohne eine politische Richtung vorzugeben“. Zumindest letzteres scheint zu gelingen. Das peruanische Konsulat nimmt Monat für Monat 100 Exemplare des ch6squi ab, um sie zu verteilen – auch die Sondernummer zur Erstürmung der Botschaft in Lima durch Fujimoris Elitetruppen im April. Andreas Baum
ch6squi : Torstraße 43, 10110 Berlin, Tel.: (030) 443 17 96
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen