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Umwege des Fortschritts?

Die Erwartung, daß die Globalisierung zu einer kulturellen Vereinheitlichung der Welt führen würde, hat sich als gefährliche Illusion erwiesen  ■ Von Jean-François Bayart

Der Begriff Modernität ist schillernd und sehr schwer klar zu fassen. Zwar machen sich heute nur noch wenige Menschen davon eine ethnozentristische Vorstellung im Sinne des linearen „Fortschritts“, wie ihn Europa im 19. Jahrhundert, auf dem Höhepunkt seiner Vorherrschaft, der übrigen Welt bringen wollte. Der Westen ist nicht länger der große Spender von „Modernität“. Die Gegenüberstellung von traditionell und modern hat viel von ihrer Überzeugungskraft verloren, denn Traditionen sind häufig „erfunden“, und die großen Visionen von einer „leuchtenden Zukunft“ sind von postmodernen Denkern zerpflückt worden.

Trotzdem wird das Wort „Modernität“ noch ständig verwendet. Deshalb ist es wichtig, es näher zu definieren. Wenn man die sozialen Veränderungen außerhalb der westlichen Welt verstehen will, insbesondere den paradoxen Beitrag, den Organisationen oder Ideologien dazu leisten, die gerne als rückschrittlich bezeichnet werden, dann erscheinen mir drei Bedeutungen des Begriffs nützlich.

Modernität kann zunächst den Zugang der verschiedenen historischen Kulturen zu „der Zivilisation“ bezeichnen, das heißt zu den grundlegenden, angesammelten Errungenschaften der Menschheit im Bereich des Wissens und der Technik. Der Westen war von der Renaissance bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Hauptzentrum „der Zivilisation“ in diesem Sinne.

Er hat auch heute noch einen entscheidenden Vorsprung, aber sein Monopol hat Japan nun gebrochen. Und Westeuropa hatte sich seinerseits lange in einer Position der Abhängigkeit und der Akkulturation im Verhältnis zu anderen, höher entwickelten Kulturen befunden, etwa gegenüber Mesopotamien, Ägypten, Griechenland, China, Indien und der arabisch-muslimischen Welt.

Der Zugang heutiger Kulturen zu „der Zivilisation“ ist künftig von der Globalisierung nicht zu trennen. Es ist aber daran zu erinnern, daß diese nicht in allen Bereichen gleichartig ist – etwa im politischen, wirtschaftlichen, finanziellen, technologischen und religiösen Bereich – und daß sie so gesehen nicht nur verbindend, sondern auch trennend wirkt. Darüber hinaus besteht die Globalisierung durchaus nicht in einem Prozeß der Vereinheitlichung, auch nicht im kulturellen Bereich. Sie schreitet vielmehr durch eine ständige Neuerfindung von Unterschieden voran; das kann man in den Verwaltungsmethoden der Unternehmen, an der Nutzung symbolischer Konsumgüter aus dem Westen sowie an der Verbreitung politischer Modelle beobachten.

Wenn man von dieser Definition der Modernität ausgeht, stellt man sofort fest, daß einige der allzu schnell als fortschrittsfeindlich und mittelalterlich bezeichneten Bewegungen sich in Wirklichkeit Elemente der universellen Zivilisation aneignen. Die Islamisten zum Beispiel stellen nicht die Idee des Staates in Frage; sie vertreten vielmehr eine neue Form des arabischen Nationalismus, der jedoch weiterhin von dem aus der Kolonialzeit stammenden Territorialstaat geprägt ist. Im Iran haben sie sich das Konzept der Republik zu eigen gemacht.

In der gesamten arabisch-muslimischen Welt sind sie begierig auf Technologie und im übrigen häufig technisch ausgebildet. Daß sie auf dem Konflikt mit dem Westen setzen, um dessen Konzepte und Know-how zu erwerben, sollte uns nicht verwundern. Seit der Entkolonisierung haben nationalistische Parteien auf ähnliche Art die europäischen Eroberer verjagt, um sich deren Erbe anzueignen.

Modernität läßt sich aber auch mit G. Therborn definieren als „eine der Zukunft zugewandte Epoche, die sich die Zukunft als wahrscheinlich anders und wenn möglich besser vorstellt als die Gegenwart und die Vergangenheit“ (selbst wenn der Holocaust, Hiroshima und dann Tschernobyl den naiven Optimismus des positivistischen Denkens erschüttert haben). Das Monopol auf die so definierte Modernität haben freilich in Asien und Afrika die verwestlichten Eliten oder vielmehr die Verehrer des Westens und insbesondere die „Säkularisten“ in den letzten Jahrzehnten verloren – wenn sie es denn jemals hatten. Bewegungen sind entstanden, die unter dem Banner der ach so westlichen Idee von der politischen Beteiligung der Massen große Zahlen von Menschen mobilisiert haben. Und diese Bewegungen treten im Namen von religiösen Überzeugungen oder von bodenständiger kultureller Identität als antiimperialistisch, revolutionär und fortschrittlich auf. Sie wollen die Verhältnisse in bezug auf das sittliche Verhalten verbessern, aber auch in bezug auf nationale Unabhängigkeit, soziale Gleichheit und Demokratie. Kurz: Sie legen großen Wert auf die Zukunft und die Verbesserungen, die sie bringen soll.

Dabei spielt es kaum eine Rolle, daß sie unter dem Mantel einer fundamentalistischen Einstellung auftreten und vorgeben, ein goldenes Zeitalter wiederherzustellen – so wie die Islamisten oder die hinduistischen Nationalisten. Denn genau das war schon die eschatologische Illusion jener puritanischen Sektierer, die Neu-England aufgebaut und die amerikanische Demokratie hervorgebracht haben.

Es bleibt noch eine dritte mögliche Definition der Modernität, und danach können solche Bewegungen problematischer erscheinen. Diese Definition greift weniger auf eine bestimmte Epoche zurück als auf eine philosophische Haltung. Modernität ist danach „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wie Immanuel Kant es formuliert hat. Das setzt eine ständige Kritik unseres historischen Seins voraus – eine Kritik, die sich gerade nicht mit dem immer wieder erneuten Diktat der Aufklärung zufriedengeben kann, in dem sich die Säkularisten gefallen, und zwar in Frankreich ebenso wie in der Türkei oder in den arabischen Ländern.

Doch dienen zum Beispiel die Islamisten, vor denen man ja durchaus behaupten kann, daß sie sich für sozialen Wandel einsetzen, auch der so definierten Modernität? In manchem Zusammenhang ja, denn sie laden die Muslime (und die Musliminnen) ein, durch den Gebrauch ihres eigenen Verstandes und durch die Teilnahme am öffentlichen Leben „aus ihrer Unmündigkeit herauszugehen“ – und sei es auch unter dem Schleier. So gesehen ist ihr großer Gegner nicht der Westen, sondern der Konservatismus der traditionalistischen Geistlichen; die Geschichte der Republik Iran hat das gezeigt.

An diesem Punkt unserer Überlegungen müssen wir aber zwei Kurzschlüsse vermeiden. Der eine wäre, politische Bewegungen wie die fundamentalistischen, die wir hier erwähnt haben, für ganz besondere oder unentbehrliche Träger der Modernisierung zu halten. Ob das so ist, wissen wir gegenwärtig nicht. Wir können diese Hypothese allerdings auch nicht einfach ausschließen, weil solche Organisationen uns nicht unbedingt sympathisch sind. Die Erfindung der Modernität mit Hilfe der Erfindung von Traditionen, auch von religiösen Traditionen, ist nicht die unbedeutendste Form des Wandels. Sie hat die Geschichte Japans und die Europas im 19. Jahrhundert geprägt. Wir sollten genug gesunden Menschenverstand und Demut besitzen, um diese Möglichkeit auch für Asien, den Mittleren Osten und Afrika ins Auge zu fassen.

Die andere Denkfaulheit würden wir begehen, wenn wir Samuel Huntington glauben und in den Wegen der Modernität grundverschiedene Wege von Kulturen, von einzelnen historischen Zivilisationen sehen wollten, die bestimmt sind, einander zu verfehlen oder, wahrscheinlicher noch, zusammenzustoßen und sich gegenseitig zu erschüttern. Es ist bekannt, daß diese Sicht in der politischen Klasse Frankreichs weithin geteilt wird, insbesondere von Präsident Jacques Chirac. Dabei wird jedoch vergessen, daß Universalität soviel bedeutet wie Neuerfindung des Unterschieds.

Die Kulturen haben sich stets „die Zivilisation“ angeeignet; darüber braucht man sich nicht von vornherein zu beunruhigen. Die Demokratie gedeiht auch jenseits der Grenzen des Westens – nicht als genaue Kopie, sondern gleichsam als Einkreuzung, als hybrides Gewächs. Sie nährt sich, wie es uns Indien seit einem halben Jahrhundert lehrt, vom Boden der jeweils eigenen Geschichte genauso wie von der Einpflanzung des britischen Parlamentarismus. Verabschieden wir uns also von unserer in der Tat mittelalterlichen Fixierung auf Gegensätze wie Islam gegen Christentum, Asien gegen Europa, Säkularität gegen religiöse Repression. Denken wir lieber über ganz bestimmte historische Abfolgen nach. Die Lektionen aus dieser Wirklichkeit mögen uns vielleicht verwirren und beunruhigen. Aber sie lassen Wege der Universalisierung erkennen, die vielfältig und wesentlich komplexer sind, als die modischen Vorstellungen von klar zielgerichteten Prozessen – etwa vom demokratischen Übergang, von der Liberalisierung, der Privatisierung, der Ziviligesellschaft oder der Marktwirtschaft – es uns ahnen lassen.

Nachdruck aus: „Überblick“, 1/97, Hamburg. Der „Überblick“ hat zwei Themenhefte zum Fundamentalismus im Islam und anderen Religionen vorgelegt. – Dr. Jean- François Bayart ist Direktor des Centre d'Études et de Recherches Internationales (Ceri) in Paris.

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