: Die Logik des Überlebens ist mörderisch
Die letzten ruandischen Hutu-Flüchtlinge aus Kongo/Ex-Zaire kehren jetzt nach monatelanger Odyssee nach Ruanda zurück. Gerade ihre Rückkehr reißt Wunden auf in einem Land, das aus der gesellschaftlichen Polarisierung zwischen Tätern und Opfern des Völkermordes noch nicht herausgefunden hat ■ Von Kadir van Lohuizen (Fotos) und Burkhard Bartel (Text)
Der 19jährige Tutsi Vivens Muhigana überlebte den Völkermord in Ruanda als einziger seiner Familie. Er wurde von einem Hutu in einem Erdloch in Kigali versteckt. Er erzählt vom Tod seiner Angehörigen: sechs Geschwister, Eltern, Vettern und Basen, Onkel und Tanten. Ein Blatt Papier füllt sich mit einem Stammbaum aus Kreuzen – sein privater Friedhof. 103 Mitglieder seiner Großfamilie starben. Von kaum einem kennt er ein Grab. Was denkt er heute über Versöhnung? Er zögert lange und sagt schließlich: „Das Leben bedeutet mir nichts mehr. Nach dem Krieg fragte mich die RPF (Ruandische Patriotische Front, die heute regierende ehemalige Tutsi- Guerillabewegung), ob ich in die Armee eintreten würde, und ich war dann auch drei Monate dabei. Aber ich habe gemerkt, daß ich nicht töten kann. Das bringt mir meine Mutter auch nicht zurück. Ich bin wieder in die Schule gegangen.“
In 100 Tagen wurden 1994 in Ruanda eine Million Menschen zerhackt, zerstückelt und zerschlagen. Es gibt wohl keine Familie, die keine Toten zu beweinen hat. Ein ganzes Volk ist traumatisiert. Heute sind mehr als 110.000 Menschen als angebliche Täter inhaftiert, in großen und kleinen Gefängnissen. Jede Woche sollen weitere 1.500 hinzukommen. Erst wenige wurden überhaupt angehört, erst ein paar Dutzend wurden verurteilt, bisher alle zum Tode. Die Urteile wurden noch nicht vollstreckt.
Auch im Jahre drei nach den „Ereignissen“ wird in Ruanda über nichts anderes geredet als über Krieg, Massaker, Sterben, Tod und Ungerechtigkeit. Wie sollte es auch anders sein? Nach der Rückkehr der Hutu-Flüchtlinge aus Zaire und Tansania werden überall wieder Leichen ausgegraben und Massengräber entdeckt. Einige der Zurückgekehrten, die 1994 oft Zeugen waren, können genaue Angaben machen über Tatorte und Verstecke der Getöteten. Wunden werden erneut aufgerissen. Die neuesten Rückkehrer aus Kisangani gelten als der letzte Dreck, auf den man gerne verzichtet hätte. Weit im Süden Ruandas, nahe der burundischen Grenze, trifft in einem Gemeindezentrum ein Lastwagen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR mit etwa 60 Rückkehrern ein, direkt vom Flughafen in Kigali. Schätzungsweise 600 bis 700 Bewohner der Gemeinde bilden einen großen Kreis und starren erwartungsvoll an, was ihnen da regelrecht vor die Füße gekippt wird.
Ausgemergelte Männer, Frauen mit geschwollenen Füßen, Kinder mit Wunden – jeder wird genauestens kontrolliert. Einige müssen sich fast nackt ausziehen. Stundenlang hocken sie in der prallen Sonne. Einige werden von den Militärs noch auf ihre Wunden geschlagen. Jeder muß seine Taschen ausleeren. Aus einigen fällt etwas Geld auf die Erde. Die Soldaten treten es mit Füßen, um es schließlich in die eigene Tasche zu stecken. Keiner aus dem Kreis der Zuschauer reicht den Rückkehrern auch nur ein Glas Wasser.
Gleich nebenan befindet sich das Gemeindegefängnis. 200 bis 400 sollen in den dunklen Zellen einsitzen, niemand weiß es genau. An diesem Abend werden einige der Neuankömmlinge die Zahl noch vergrößert haben. Man kann an den Fenstern vorbeigehen und in die Gesichter sehen: Angst, Leere, Haß.
Mit der Rückkehr der Flüchtlinge hat sich die Situation in Ruanda verhärtet. Die Hauptstadt Kigali ist das Fenster zur Welt und vermittelt dem oberflächlichen Betrachter den Eindruck einer geordneten Stadt, die die Verwüstungen des Krieges beseitigt und den Wiederaufbau schafft. Überall wird gebaut, die Märkte werden reich beliefert. Aber auf den Hügeln draußen im Land zeigt sich ein anderes Ruanda. Viele zerstörte Tutsi-Häuser liegen noch in Ruinen. Längst nicht alle Felder werden wieder bearbeitet. Das frühere bunte Treiben und Handeln ist noch nicht wieder eingekehrt.
Es kann von einer „Burundisierung“ Ruandas gesprochen werden: Die Tutsi-Bevölkerung sucht den Schutz der städtischen Ballungszentren, die Hutu leben auf dem Land. Es werden ja immer wieder überlebende Tutsi getötet, vor allem im Westen – selbstmörderische Taten ohne jeden Sinn von verbohrten Hutu, die der Überzeugung sind, daß sie ihr Werk noch nicht vollendet haben. Aber, wie ein Botschaftsmitarbeiter behauptet: Für jeden getöteten Tutsi lassen 100 Hutu ihr Leben.
Kriegstraumata sind gerade unter Kindern das größte Problem. Die Schülerzahlen haben fast wieder den Vorkriegsstand erreicht, die Zahl der Grundschüler ist bereits höher als vor dem Krieg, aber die Zahl der Lehrer hat sich halbiert. Seit Angriffen auf Schulen durch Milizen im Februar mit über 50 Toten verlassen immer wieder Schüler die Schulen mit der Erklärung, daß sie nicht sterben wollen – fast alle Oberschüler in Ruanda leben im Internat. Ein anderes großes Problem, berichten Schulleiter, sei zunehmende Disziplinlosigkeit: Betrügereien, Nichtrespekt des Eigentums anderer Schüler, in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß.
Früher wurde die Geste verstanden, wenn man beim Schulbesuch Brote mitbrachte und mit den Kindern teilte. Diesmal sagt beim Besuch in Shyogwe ein Schüler deutlich hörbar zu seinen Mitschülern: „Paßt auf! Das Brot könnte doch vergiftet sein!“ Ein solches Mißtrauen war vor dem Krieg unvorstellbar. Auch wollen sich die gefragten Schüler nicht mehr fotografieren lassen. Früher wollte jeder aufs Foto drauf und dann einen Abzug kriegen.
Die Situation im Land hat sich so verhärtet, daß kaum noch ein Hutu ein schlechtes Wort über einen anderen Hutu zu sagen wagt. Fragt man, warum dieser oder jene Hutu-Flüchtling nicht aus Zaire zurückgekehrt ist, lautet die Antwort immer wieder: „Wissen wir nicht.“ Oder warum dieser oder jene Kirchenmitarbeiter im Gefängnis sitzt: Schweigen. Erst von Tutsi-Seite wird dann erzählt, man könne für diesen oder jenen nichts tun, weil er zum Beispiel zu Beginn des Völkermordes mit einem Gewehr gesehen wurde oder an einer Straßensperre „aktiv“ war.
Damit wird klar: Es gibt unter Hutu eine Solidarität des Schweigens. Es kommt zur Verherrlichung der eigenen Gruppe. Wer das nicht bedingungslos mitträgt, erhält das Feindbild des Gotteslästeres, des Unmoralischen und Sündhaften. Von diesem Moment an ist es die Pflicht vor Gott, die Angehörigen der gegnerischen Gruppe zu hassen. Jeder Gegner kann mit gutem Gewissen getötet werden. So gibt es eine Million Tote, aber keine Mörder, denn niemand hat ein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil: Dieses Töten ist eine ehrenhafte Pflicht. Der Teufelskreis der Gewalt schließt sich.
Auf der Tutsi-Gegenseite wiederum provoziert die Solidarität des Schweigens Sätze wie: „Wir haben das Recht auf Rache und Vergeltung“ oder: „Jeder Hutu ist bis zum Beweis des Gegenteils als schuldig anzusehen.“ Er hat dann die Pflicht, sich zu entschuldigen und seine Unschuld zu beweisen.
Kennzeichnend ist Stigmatisierung mit generalisierenden Worten. Génocidaire – „Völkermörder“ – ist jeder, der den Völkermord mit vorbereitet hat, kann aber auch jeder sein, der mal einen zweideutigen Satz gesagt hat oder der nicht verhindete, daß in seiner Nähe jemand getötet wurde. Fast jeder Hutu steht inzwischen in der Gefahr, als génocidaire zu gelten. Damit hat dieser Begriff seine Definitionskraft verloren. Es gibt noch andere: Abacengezi sind die „Bösewichte“, die heimlich und bewaffnet aus Zaire zurückkommen und Überlebende des Völkermordes ermorden. Sie werden auch auf französisch infiltrés gennant – „Einsickerer“. Igipinga ist ein neues Wort für die Interahamwe-Milizen. Alle drei Begriffe werden ebenfalls immer generalisierender verwendet.
Die Würfel sind gefallen: Jeder weiß, wo er hingehört, Hutu oder Tutsi. Jeder ist auf diese Identität angewiesen und eingebunden, obwohl offiziell davon nicht mehr die Rede ist. Grenzüberschreitungen finden seltener statt. Die Meinung der anderen kennt man nicht. So wird der Tod von Menschen zur Banalität.
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