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„Wer lasch ist, geht hier baden“

■ Drogen, Waffen, soziales Chaos – für das Leben lernen / Astrid Torkel (47) ist Lehrerin am Schulzentrum Marßel

Am Ende einer Sackgasse klotzt das Schulzentrum Marßel. Ein bißchen wie ein Gefängnis, ein bißchen wie ein Rangierbahnhof, die „Schneller-leben-Architektur“zeigt nach dreißig Jahren Risse. Aus Betonspalten lugt Löwenzahn und falscher Hafer hervor. Von Bremen aus gesehen liegt Marßel hinter dem Berg. Einst war hier grünes, wildes, freies Land. Jetzt ist Marßel von Siedlungsblöcken zubetoniert, vom Arbeitsmarkt vergessen: Sozialer Brennpunkt nennt es das Sozialamt.

Die Plattensiloschule ist in Blocks aufgeteilt: Block A, Block B, Block C – man muß sich nichts dabei denken, wenn man sich zurechtfinden will. 70 LehrerInnen und 900 SchülerInnen sind hier zu Hause. Astrid Torkel unterrichtet eine siebte Realschulklasse. Zur Zeit ist etwas Hektik im Hause. Astrid Torkel muß neben ihrem eigenen Unterricht kranke KollegInnen vertreten.

Die Schüler der siebten Klasse quälen sich augenscheinlich mit dem Rechnen mit rationalen Zahlen. Nicht gerade was Spritziges, doch sie geben sich diszipliniert. Astrid Torkel spricht viele Jugendliche direkt an: Man kann also nicht einschlafen. „Wir müssen den Kindern das Gefühl geben, daß wir uns um sie kümmern, dann tauen sie vielleicht auf und arbeiten mit“, sagt die Lehrerin. „Ich leide aber darunter, daß ich meinen SchülerInnen nicht so viel beibringen kann, wie ich möchte.“Das liegt nicht daran, daß hier die Kinder dümmer wären als anderswo. Sie schleppen nur ihr Alltagsleben mit in die Schule.

Da sind die beiden SchülerInnen, mit denen die Mutter vom leiblichen Vater weg- und zu ihrem Freund gezogen ist. Dort hielten es die Mädchen nicht aus und flüchteten zum Vater zurück. Jetzt führen sie bei ihm neben der Schule den Haushalt. „Bald habe ich es leichter“, sagt die 14jährige, „Papa hat sich eine Frau in Rußland gekauft.“– „Wenn sie uns nicht gefällt, tauschen wir sie um“, flüstert die jüngere Schwester.

Ein türkisches Mädchen sollte mit 16 von ihrem Vater verheiratet werden. Kurz vor Schulabschluß flieht sie. Sie hatte sich in einen anderen verliebt. Nun hat sie die Ehre der Familie beschmutzt. Wildfremde Leute spucken sie auf der Straße an.

Einem 14jährigen wurde der Oberkiefer eingeschlagen. Anzeige mag er nicht erstatten; er hat Angst, dann erst richtig verprügelt zu werden.

In den Hauptschulklassen sitzen jeweils mindestens drei extrem sozial gefährdete Kinder, schätzt Astrid Torkel. „Das geht bis zur sexuellen Nötigung in der Familie.“

Drogen, Gewalt und Handel mit geklauten Waren sind selbstverständliche Bestandteile des Alltags der Jugendlichen. Im letzten Jahr wurde gar ein jugendlicher Waffenhändler erwischt. Und es prallen in Marßel soziale und ethnische Gruppen aufeinander, die ihre Konflikte selbstverständlich auch in der Schule austragen.

Sehr beliebt etwa ist der Streit, wer „deutscher“ist: Eine Russin mit deutschen Vorfahren, die seit einem Jahr in Marßel wohnt, oder eine Türkin, die in Bremen geboren ist. Ob russische oder polnische Aussiedler, Türken, Libanesen oder Deutsche, jede Gruppe verteidigt die eigenen Sozialstrukturen. Mißtrauisch und neidisch wird die jeweils andere Gruppe belauert. Freuen sich türkische Jungen zum Beispiel über ihre Chancen bei deutschen Mädchen, so können sie andererseits sehr ungemütlich werden, wenn sich ein deutscher Junge für eine ihre Schwestern interessiert.

„Im Unterricht bin ich bemüht, erstmal eine Verhaltensgrundlage zu schaffen, die für alle verbindlich ist“, sagt die Lehrerin. „Bei vielen Jugendlichen sind die Familien zerbrochen. Oder die Kinder sind den ganzen Tag allein. Ihnen fehlt oft ein sozialer Konsens im Zusammenleben. Wir müssen in der Schule einen Familienzusammenhang ersetzen.“Und das sei nicht möglich als fauler, lauer Lehrer, der nur an Ferien denkt. „Ich bin stinkesauer“, schimpft Astrid Torkel, „wenn ich an die Verunglimpfungen von uns LehrerInnen denke. Ein Lehrer, der hier an der Schule lasch arbeitet, ist in vier bis fünf Jahren weg vom Fenster.“

Um wenigstens den Schulalltag etwas zu entspannen, wurde vor gut drei Jahren in Marßel eine ganztägige Betreuungsschule eingerichtet. Vorher hatten die Jugendlichen keinen Treff. Nachmittags turnten sie auf dem Schulhof herum, es gab Ärger, Schlägereien und Zerstörungen. Jetzt dient der Nachmittag als sozialer Puffer zwischen den Anforderungen der Schule und den sozialen Bedürfnissen der Jugendlichen. Zwei Sozialarbeiter sind eingestellt worden, und LehrerInnen können Schulstunden in AGs oder Projekten in der ganztägigen Betreuung ableisten.

Die Betreuungsschule ist zunächst eine Möglichkeit, unbefangener mit den SchülerInnen zu reden. Schach, Theater, Sport, Backen, Hausaufgabenhilfe, gemeinsame Stadtbesuche und eine Mädchengruppe werden angeboten. „Auf unsere Küche sind wir besonders stolz,“sagt Torkel. Der Kochunterricht der Hauptschule findet in der Betreuungsschule statt. Das tägliche gemeinsame Mittagessen ist für viele Kinder eine neue Erfahrung.

Mit den Eltern ihrer SchülerInnen trifft sich Astrid Torkel regelmäßig zum Elternstammtisch. „Vorher habe ich das organisert, das hatte dann so einen Elternabendcharakter.“Mittlerweile laden die Eltern selbst ein und treffen sich auch ohne die Lehrerin. „Manchmal erfahren die Eltern erst am Stammtisch, was in der Schule passiert. Natürlich petze ich aber nicht.“

Klassenfahrten als eine Art Therapiemaßnahme stehen bei Astrid Torkel hoch im Kurs. „Vor zwei Jahren waren wir vierzehn Tage in der Türkei.“Plötzlich waren die deutschen SchülerInnen in der Rolle vieler ihrer türkischen KlassenkameradInnen, sie verstanden wenig bis nichts. „Eine sehr heilsame Erfahrung.“Dieses Jahr geht es nach Paris. Ein bißchen lernen und Urlaub machen. „Nichts bringt mehr für ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten als gemeinsam zu entspannen“, sagt Astrid Torkel.

„Ich habe oft das Gefühl, ich kann meine Schüler nur beraten oder sie stützen. Wirklich helfen kann man als Lehrerin eigentlich nicht. Das geht an die Substanz.“

Thomas Schumacher

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