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Landschaft aus Licht und Stein

Eine Eisenbahnfahrt durch das Hinterland Istriens. In verlassenen Dörfern gewinnt die Natur wieder Besitz von den kultivierten Böden und läßt Mauern einstürzen. Über zwanzig Volksgruppen teilten sich vor hundert Jahren das Land  ■ Von Balduin Winter

Zwischen Postojna/Adelsberg mit seiner berühmten Grotte und Triest liegt Divača, der Ausgangspunkt der istrischen Eisenbahn, die durch das Hinterland nach Pula führt. Gleich nach Divača zieht die Bahn steil aufwärts in die Karstregion, eine Landschaft aus Licht und Stein. Seit Jahrhunderten klauben Menschen die Steine von den dürftigen Feldern und schichten sie zu Mauern hoch. Sie dienen als Windschutz, damit die dünne Ackerkrume nicht fortgewirbelt wird. Dennoch sind die Äcker von Steinen übersät, als würden hier weit mehr Felsen als Ähren wachsen.

Im porösen Stein versickert das Wasser schnell, korrodiert den Kalk, unterhöhlt den Berg, nicht selten verschwinden plötzlich ganze Flüsse in der Unterwelt des Karstes. Kein Zufall, daß die in einer tiefen Schlucht unter dem Ort Pazin in ein Felsentor eintauchende Fojba – ihr Wasser wird viele Kilometer später vor der Küste unterirdisch ins Meer einmünden – für Dantes Hölleneingang Pate stand: „Lasciate ogni speranza voi ch'entrate...“ („Laßt, die ihr eintritt, alle Hoffnung sein“). Dantes Vers könnte über einige der Fojbe (Höhlen) eingemeißelt sein, die ein schreckliches Geheimnis bergen. Die ganze Region zwischen Triest und Rijeka, zwischen Pivka und Pazin ist ein riesiger Porenbau, der Verstecke für den Widerstand gegen Hitler und Mussolini bot, aber auch zum Ort einer blutigen Abrechnung wurde. In der Karstspalte bei Bassovizza (Basovica), die durch eine Sprengung geschlossen wurde, sollen die Gebeine von Nazi-Schergen, aber auch von antifaschistischen Italienern liegen.

Istrien ist ein uralter Schauplatz kriegerischer Geschichte. Angehörige zahlreicher Völker zogen hier durch, flüchteten hierher, ließen sich nieder, wurden vertrieben oder verschmolzen mit Neuangekommenen. Immer gab es Miteinander, Nebeneinander und Übereinander auf dem istrischen Schild. Die Herrscher waren fast immer ausländische Herren. Sie fochten viele Kriege aus, verbrauchten unzählige Untertanen für ihr Schlachten, zogen immer neue Grenzen.

Dank ihrer Untaten weiß man einiges über das Land. Hier verlief, früh schon, die Front zwischen der römischen Zivilisation und den barbari, die ihre Fortsetzung fand in der Front zwischen den Kirchenfürsten von Aquileia und den einwandernden Slawen; herablassend s'ciavi (Sklaven) genannt. Später war es die venezianische Signoria, die die Waldbestände plünderte, um ihren Reichtum und ihre Kultur auf Pfähle stellen zu können und verachtungsvoll auf die armen istrischen Hinterwäldler herunterzuschauen. Mit verschiedenen Österreichern stritten sich die Dogen über Pfründen und Leibeigene – Städte wie Pazin hatten zwischen 1380 und 1766 ganze 21 verschiedene Herrscherhäuser.

Über die Menschen aber weiß man nur wenig. Josef Stradner, der 1897 eine Studie „Zur Ethnographie Istriens“ vorlegte, kam zu folgendem Ergebnis: „Wohl in keinem anderen Theile Europas findet man auf einem kleinen Flecke Erde so vielerlei Nationalitäten vertreten, als in Istrien.“ Aufgezählt werden: Slowenen, čakavische und stokavische Kroaten, Kroatoslowenen, Slowenokroaten (Fučki), Italoslowenen (Schiavetti), Bezjaken (Italokroaten), Uskoken, Moriaken, Albaner, Montenegriner, Griechen, Zyprioten, Walachen, Ciribirci (Balkanwalachen der Čepićer Gegend), Italiener (Venezianer, Toskaner, Chiogiotten, Gradeser, Aquileianer), altrömische Istrier, Cargnielli (Karner), Furlaner (aus Friaul), Tschitschen, Nachkömmlinge von Aromunen, Zinzaren, Karaguni und Fascheroten, Juden, Österreicher, Serben, Tschernogorzen, Bosnier. Sie alle lebten mehr oder weniger zusammen zu Beginn dieses Jahrhunderts – vor den großen Völkerwanderungen, den Vertreibungen und dem Tourismus.

In Podgorski Kras sind die Böden karg und wasserarm, von den weißgrauen Pickeln des Kalks überzogen, der auf die ganze Landschaft abzufärben scheint. Früh im Sommer ergraut schon das harte Gras. Dann nehmen die Hochflächen jene ausgebleichten, melancholischen Tönungen an, die vom schwarzen Grün der gekrümmten Kiefern und Steineichen noch unterstrichen werden. Die in den Fels gesprengte Bahntrasse führt hoch über steile Täler unter dem Felsenkamm der Čičarija entlang, einer unwirtlichen Gegend mit einer Handvoll spärlich bewohnter Dörfer. Gemeinsam mit dem südlich abschließenden, fast 1.400 Meter hohen Učka-Massiv bildet das Hochland des Tschitschenbodens eine natürliche Barriere zwischen der Halbinsel Istrien und dem Festlandsockel.

Die meisten Fahrgäste kennen diese Landschaft. Es sind Einheimische, die nach Buzet, Pazin oder Pula fahren. Fast alle stehen an den Fenstern auf der rechten Seite des Waggons und schauen in die Abgründe. An manchen Stellen sieht man nur noch tief unten ein Tal. Dahinter Welle um Welle Hügelland, Wälder und Karst, Weiler und Äcker, weites Land mit vielen Gesichtern. Dahinter, an manchen Stellen zu sehen, das Meer, silberfarben vom Abendlicht, fern die flache italienische Küste. Im Waggon ist es nahezu still. Sehen Sie, sagt die Frau neben mir, da hinten, da liegt Venedig! – Kann man wirklich bis Venedig sehen? Die scharf gezogene Horizontlinie scheint an einer Stelle ein wenig aufgerauht zu sein. Vielleicht von einer Sehnsucht.

Nugla, Roč, Ročko polje, Hum – kleine Siedlungen auf Hügelkuppen, wetterfarbene Häuser um Kirchen geschart, von Mauern eingefaßt; manche wirken wenig bewohnt oder gar verlassen. Einfache Zweckbauten zumeist, unverputzte Steinhäuser mit regenverwitterten Rundziegeldächern oder flachen Schieferplatten gedeckt. Das Fehlen von neuen Häusern deutet auf Abwanderung hin.

Insbesondere die südlichen Karstgebiete und das istrische Hinterland sind ausgedünnt durch die Landflucht der Menschen, so daß die Natur nach und nach wieder Besitz ergreift von Rodungen und aufgelassenen Feldern. Irgendwann nagen die Herbstwinde an den aufgeschichteten Ringmauern, im Winter sprengt das Eis Teile heraus. Stück für Stück bricht, die Breschen nutzt der Wind für weitere Angriffe und wirbelt die dünne Ackerkrume auf. An noch geschützteren Teilen beginnen Krüppelkiefern und niedrige Zerreichen zu wurzeln, hartnäckige Akazienbüsche verstrüppen den einst kultivierten Boden. Nichts bleibt vom Feld.

Unmerklich wandert die Macchia weiter, überzieht Ackerflächen und Weideland mit ihrem stacheligen Pelz, macht auch vor den kleinen Weilern nicht halt, nistet sich als beharrlicher Gast in verlassene Häuser ein. Gras, Disteln, Kräuter, Brennesseln bereiten den Boden für stämmigere Gewächse, bald streckt aus leerem Fenstergeviert ein Strauch seine Äste dem Licht entgegen, irgendwann stößt eine Akazie durch das von Stürmen und Unwettern arg zugerichtete Dach, Rundziegel und Schieferplatten stürzen ins Innere des Steinskeletts, bald folgt der durchgemorschte Dachstuhl nach.

Die Hafenstadt Pula ist der Endpunkt der Bahnreise. Hier wurde 1904 James Joyce der Spionage verdächtigt und mußte binnen 24 Stunden die Stadt verlassen. Er nahm das Dampfboot nach Triest. Wäre er mit der Eisenbahn gefahren, hätte es vielleicht eine Karstversion des Ulysses gegeben.

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