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Paradise now!

Die Geburt des Turnschuhdesigns aus dem Geist expressionistischer Architektur  ■ Von Nike Breyer

Plastische Formen mit transparenten und verspiegelten Bullaugen, hexagonalen Bienenwabenstrukturen und aerodynamischen Kurven aus aufgeschäumtem Marshmallowfluff – sind das noch Schuhe?

Nicht wirklich – High-Tech- Trainer, von Insidern auch mit dem Gattungsbegriff New School belegt, kommen eher wie hochgezüchtete Mutanten derselben daher und sind die aggressive Konkurrenz von Old-School-Turnschuhen, worunter man die schlichten Klassiker aus den siebziger und achtziger Jahren versteht, vor allem die mit den drei Streifen, aber auch Reeditionen und Nachbauten im „alten“ Stil. Old-School- Turnschuhe sind oder waren jedenfalls bis vor kurzem eines der wichtigsten Kultaccessoires der skateboardfahrenden und basketballspielenden Kids und musikalisch kurzgeschlossen mit dem ebenfalls in die Defensive geratenen HipHop-Movement. Hier funktionierten sie als Erkennungscode, bei dem die richtigen Modelle einen symbolischen Anschluß herstellten an die Old- School-Rapper und Deejays. Die amerikanische Rap-Band RUN DMC hat mit ihrem Titel „My Adidas“ von 1986 zur Kultenergieaufladung dieser Marke nicht unwesentlich beigetragen.

New School betont im Gegensatz dazu die Referenz zum Heute, mit Blickrichtung Zukunft, und feiert Leistung, Technik und Körperkult. Die Originale, natürlich längst eskortiert durch Unmengen namenloser Kopien, kommen aus den Entwicklungslabors der prestigeträchtigen Megamarken Nike, Reebok, Fila, Adidas und einiger anderer, wo modernste Werkstoffe und Dämpfungstechnologien zum Einsatz kommen. Wichtigstes Merkmal der High-Tech- Trainer ist jedoch ihr extraterrestrisches Design. Doch genau dieses ist erstaunlicherweise nicht so innovativ und vorbildlos, wie es der futuristische Gesamtauftritt dieser Schuhe behauptet.

Tatsächlich entstanden schon vor einem dreiviertel Jahrhundert im Dunstkreis des deutschen Expressionismus visionäre Architekturskizzen, deren formale Nähe zum New-School-Design verblüfft. Gemeint sind die Arbeiten der beiden Architekten Hermann Finsterlin (1887–1973) und Erich Mendelsohn (1887–1953), die beide im Jahr 1919 mit Ausstellungen in Berlin erstmals an die Öffentlichkeit traten. Mit beiden hatte das zeitgenössische Publikum Probleme. Finsterlin absolvierte seinen Skandalauftritt in der „Ausstellung für unbekannte Architekten“, die vom Arbeitsrat für Kunst, kurz RFK, einem idealistischen Relikt aus der Bayerischen Räterepublik, veranstaltet wurde. Dieser elitäre Intellektuellenklub hatte sich unter Führung von Architekt Bruno Taut nichts weniger als die geistige Führerschaft beim Aufbau der neuen Republik vorgenommen. Eine neue Architektur, so das ehrgeizige Ziel, sollte das Volk vom schnöden Materialismus befreien, wesenhaft vergeistigen und ins Paradies auf Erden expedieren. Die Ausstellung verstand man als eine Art Talentschuppen, der entsprechende Visionen hervorkitzeln sollte. RFK- Mitglied Walter Gropius, der wenige Monate später zum Direktor der neuen Kunstschule Staatliches Bauhaus in Weimar berufen wurde, ermutigte damals die teilnehmenden Künstler in einer Flugschrift ungewohnt schwärmerisch: „Baut unbekümmert um technische Schwierigkeiten! Gnade der Phantasie ist wichtiger als alle Technik, die sich immer dem Gestaltungswillen der Menschen fügt.“

Speziell Finsterlin, dessen Zeichnungen einen schwülstigen biodynamischen Comicstil entfalteten und dabei Statik und Perspektive großzügig links liegen ließen, erntete nur Spott, Hohn und Unverständnis. „Schaubuden für Mißgeburten, Seeschlangen und anderes Getier“ und „biomorphe Architekturphantasien ohne Architektur“ lauteten die unverhohlen aggressiven Kommentare der Kunstkritik. Sie hatte für ihn keine passende Schublade, was kompliziert wurde durch den Umstand, daß auch Finsterlin selbst eigensinnig auf dem Etikett Architektur beharrte. Ein folgenreiches Mißverständnis. Er bekam auch später künstlerisch keinen Fuß auf den Boden und verbarrikadierte sich für den Rest seines Lebens beleidigt in privater Idylle. Der gleichaltrige Erich Mendelsohn war dagegen studierter Architekt. Als er 1919 seine atemberaubende „Architektur in Eisen und Beton“ in Berlin ausstellte, hielt man auch seine Entwürfe zunächst für utopisch. Mit dem Einsteinturm in Potsdam konnte er jedoch schon ein Jahr später beweisen, wie realitätsnah sie in Wahrheit waren. Der Bau wurde zum Inbegriff expressionistischer Architektur. Im Gegensatz zu Finsterlin machte Mendelsohn später Karriere.

Wir haben mit diesen Zeichnungen heute nicht die Probleme der Zeitgenossen. Mit dem visuellen Vokabular des 20. Jahrhunderts im Hinterkopf lesen wir sie nämlich nicht mehr krampfhaft als verquere Architektur, sondern – naheliegender – als extravaganten Freestyle, sprich postmodernes Design.

Phantasie, hatte Gropius seinerzeit behauptet, sei für die Architektur wichtiger als Technik, die sich immer dem Gestaltungswillen des Menschen füge. Im Falle Finsterlin hat sie sich ziemlich Zeit gelassen. Erst die Erfindung von EVA, Phylon, Mesh, Kevlar, Duralon und anderen Hochleistungssynthetiks stellte fünfundsiebzig Jahre später schließlich Werkstoffe bereit, die Finsterlins Visionen, wenn auch in neuem Maßstab, ein Andocken an die Wirklichkeit ermöglicht hätten. Nehmen wir etwa Ethylvinylacetat, kurz EVA, die wichtigste Wunderwaffe des aktuellen Sportschuhdesigns. Nach der ersten Sheetstock- Ware (Preßschaum von der Rolle) mit noch begrenzten Formmöglichkeiten ermöglichte erst die zweite Generation eines Compression-moulded EVA die galaktischen Shapes der heutigen High-Tech-Trainer, die von Finsterlins Pseudoarchitektur vorausgeträumt wurde. Die von Anfang an auf High Tech spezialisierte Marke Nike hat dieses Material zusammen mit seiner Air-Cushion- Technologie als eine der ersten eingesetzt. Reebok, Asics, Fila, Puma und Adidas zogen nach und kombinierten mit eigenen Dämpfungstechnologien, die alle auf kissen- oder wabenartigen Hohlkammersystemen basieren, die mit Gas, Luft oder Flüssigkeit gefüllt sind. Genau wie EVA erledigen auch diese Dämpfungssysteme einen doppelten Job. Das heißt, sie sorgen einerseits für Funktion, andererseits für Animation, indem ihre Technik durch plastische Gestaltung und diverse Fensterkonstruktionen sichtbar gemacht wird. Form folgt hier nicht der Funktion, sondern inszeniert Funktion – auch wenn das keiner hören will. Denn Design hat ein geringeres Prestige als Technik. Dennoch, auf den Storyboards der Designer, die inzwischen auch lieber Produktmanager gerufen werden wollen, sind Hochgeschwindigkeitszüge, schnelle Autos, Möbel, Architektur und Sportgeräte unverzichtbare Arbeitsmaterialien. An ihnen wird der Zeitgeist in konkreten Kurven dingfest gemacht, um dann im Turnschuhdesign recycelt zu werden. Rainer Seitz, Chefdesigner von Puma, studiert derzeit gleichzeitig die Eiformen japanischer Fahrzeuge und die Karosserien alter BMW-Roadster, immer auf der Suche nach der perfekten Windschnittigkeit. „Im Grunde ist es ganz einfach“, meint auch der Design-Zeremonienmeister von Nike, Tinker Hatfield, „man startet mit genauen Kenntnissen davon, was ein Sportler braucht, kombiniert diese mit einem spielerischen Verständnis von Style und einem präzisen Empfinden für das, was in der Welt passiert – und man hat Nike-Design.“

„Unser Architekturwollen ist Religionwollen“, hatte vor einem dreiviertel Jahrhundert Weltbaumeister Bruno Taut erklärt – weniger verstiegen, als es scheint. Denn auch heute werden im Design kryptoreligiöse Botschaften transportiert. Das erträumte Paradies ist allerdings weniger eine vergeistigte Republik, als ein genußvolles Leben auf der Überholspur. „Der Mensch befindet sich in Konkurrenz zur ganzen Welt“, diagnostiziert hierzu Trend-Apostel Matthias Horx, „nur die besten kommen durch, im Leben wie in der Nachbarschaft.“ Leben, so haben wir nämlich gelernt, ist Wettkampf, und es geht darum, zu den Gewinnern zu gehören. Der High- Tech-Aufmachung der Sportschuhe gelingt es nun, diesen kollektiven Traum zu moderieren, indem finsterlinisch anmutende Kurven die Siegerqualitäten Dynamik und Geschwindigkeit in Design übersetzen und damit den Traum im Turnschuh greifbar und verfügbar machen.

Der Londoner Laden „Offspring“ in Covent Garden hat sich seit einem Jahr auf Hochleistungssportschuhe spezialisiert und verkauft sie erfolgreich an Sportler, aber zunehmend auch an trendsensible Nichtaktive. Wegbereitend waren hier einerseits die für Trash und Protz empfänglichen Ausländerkids, aber vor allem auch die Clubszene, die bekanntlich ein inniges Verhältnis zu Technik und synthetischen Substanzen pflegt, vom elektrischen Groove bis zu Methylendioxymethamphetamin alias XTC auf. High-Tech-Trainer passen da ins Bild, und entsprechender Kultenergietransfer sorgt für wachsendes Prestige und steigende Nachfrage. Nicht nur Robbi Williams, Sänger der 1996 aufgelösten Kultband Take That, ist inzwischen erklärter Fan.

Zukunft ist wieder mal modern, zumindest als unverbindliches Wohlgefallen an futuristischen Kurven. „Yo, man, basketball is cool“, schwärmt eine Produktinformation zu spacigen Nike-Basketballschuhen, „bei diesem Spiel gibt es keine ethnischen Schranken, die Atmosphäre ist klassenlos, offen und vielfarbig.“ Paradise now – auf den richtigen Sohlen!

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