: Love Parade 1997: "Das ist die Politik der Neunziger." In Berlin lief am Samstag ein breiter Querschnitt zeitgenössischer Jugend durch die Gegend. Manche sahen aus, als kämen sie aus der Neckermann-Abteilung für Raverklamotten, andere waren
Love Parade 1997: „Das ist die Politik der Neunziger.“ In Berlin lief am Samstag ein breiter Querschnitt zeitgenössischer Jugend durch die Gegend. Manche sahen aus, als kämen sie aus der Neckermann-Abteilung für Raverklamotten, andere waren ausgesprochen phantasievoll gekleidet. Glücklich waren alle: „Wahnsinn!“
Glücksentschlossen
Für die meisten ist die Berliner Love Parade lediglich der größte Technoumzug der Welt, für andere ist sie eine Art Ausnahmezustand, eine wilde Traumzeit, ein großartiges Technofestival mit einer Unmasse glücksentschlossener Menschen. Eine Riesenfete, die am Freitag mit „Dr. Mottes Licht & Liebe“-Party in einem riesigen Busdepot begann, um irgendwann am Montag morgen zu enden.
Allzuvoll war es bei der Eröffnungsveranstaltung am Freitag nicht. Wahrscheinlich kam man sich auch deshalb ein bißchen übertrieben kontrolliert vor. Am Eingang wurde man auf Drogen untersucht. Joints durfte man wenigstens mit rein nehmen – wär' ja auch noch schöner. Love-Parade- Vater Dr. Motte, der im offiziellen Veranstaltungsprogramm davon berichtet, daß er vor ein, zwei Jahren ein psychedelisch induziertes Erleuchtungserlebnis hatte, kam im Malcolm-X-T-Shirt daher. Überall patrouillierten Rot- Kreuz-Aufseher, sie wirkten in ihren Bundeswehrhosen mit Taschenlampen, die an Knüppel erinnerten, ein bißchen bullenmäßig.
Die Parade am nächsten Tag war für manche hier kein Thema mehr – oder gerade. Lena, Anfang dreißig, die früher mal zu der Parade „wir“ gesagt hatte, ging nicht mehr hin, weil das doch alles eine „pubertäre Abzockerei“ sei – völlig unmöglich, da überhaupt hinzugehen. Judith, die zwanzig ist und auf der Love Parade 94 ihr erstes Ecstasy genommen hatte, meinte: „Daß es um nichts geht, ist eigentlich das Politische“, und „daß da eine Million Menschen zusammenkommen und friedlich miteinander feiern“, hätte auch was mit Politik zu tun. „Das ist eben die Politik der Neunziger – so 'ne große Partydemo. Das ist ziemlich geil, obwohl das alles auch ziemlich aneinander vorbeiläuft oder eigentlich auch gar keine richtige Party ist. Eigentlich ist das auch total unfair. Bei einer Million Menschen darf eigentlich keiner an der Love Parade verdienen. Die gehört doch allen. Am coolsten fände ich es, wenn die ihren ganzen Gewinn wieder in den Tiergarten stecken würden.“ Statt zur Love Parade fuhr Judith dann auf eine eher alternativ gesonnene Goa-Party, die zur gleichen Zeit am Stadtrand stattfand.
Love Parade 97: 1,5 Millionen Menschen kamen nach Angaben der Veranstalter – die ihre bisherigen alljährlichen Verdoppelungsraten wiederholen wollten –, 350.000 waren es nach Angaben der Polizei. Ist auch nicht so wichtig, zu gucken, wer recht hat. In jedem Fall würde lügen, wer von einer Million begeisterten Ravern sprechen würde, denn in erster Linie lief am Samstag ein ziemlich breiter Querschnitt zeitgenössischer Jugend durch die Gegend. Manche sahen unglaublich stumpf, andere ziemlich klasse aus. Papa, Mama, Oma, Opa waren auch dabei. Ein Mann Mitte fünfzig war mit einer Reisegruppe aus Hannover gekommen und fuhr gleich danach wieder zurück: „Meine Tochter war auch schon mal hier. Die hat auch so Bilder gemacht und so ein Buch. Da steht drin, was junge Leute unter Love Parade verstehen und daß man keine Vorurteile haben darf und jeder sich eben so gibt, wie er sein möchte. Das finden wir unglaublich toll. Und daß sich keiner zankt.“
Jede/r zweite trug Sonnenbrille. Manche sahen aus, als kämen sie direkt aus der Neckermannabteilung für Raverklamotten. Andere waren ausgesprochen schön. Kurzhaarige Fans des früheren Stasi- Fußballklubs BFC Dynamo in T-Shirts mit dem Aufdruck „BFC- Love-Parade '97“ waren auch dabei und sangen ausländerfeindliche Lieder. Ein schweißglänzender Prolltyp im blauen Hosenanzug schüttete entschlossen abwechselnd Apfelkorn und Bier in sich hinein. Apfelkorn war ohnehin ziemlich beliebt. Ein buntes Mädchen segnete jeden, der an ihr vorbeilief, mit einer großen Sonnenblume. „Wir sind eher Antidrogenfreaks“, meinten zwei Mädchen aus Norddeutschland. „Wahnsinn“ seufzten viele – wie zur Maueröffnung. Auf einem der Wagen streichelte eine Frau einen roten Wollpenis.
Der Panzer des Berliner Brechtensembles fuhr unter dem schönen Motto: „Spaß haben, die Welt verändern und dabei Geld verdienen.“ Der „Marienhof“-Wagen nervte mit dumpfestem Dummentechno. Auf dem Low-Spirit-Wagen saß der Dichter Rainald Goetz im Schneidersitz hinter Africa Bambaataa, der grad auflegte und schaute sehr glücklich aus. Während sein Freund, der Berliner Technopionier Westbam, freundlich mit dem Fußvolk gestikulierte.
Karin, blond und etwa 17, spritzte jeden, der an ihr vorbeiging, mit ihrer Wasserpistole naß. „Das macht voll Spaß. Eigentlich spritz' ich jeden naß und vor allem die, die immer so doof gucken. Die Tussen, die voll geschminkt sind und sich dann aufregen über das Wasser – das macht am meisten Spaß.“ Karin fand die Parade „geil“ und auch sehr politisch: „Es ist halt für Liebe. Damit die Leute nicht alle so scheiße gucken und nicht alle so blöde drauf sind, sondern Spaß haben und Lust haben, hier zu sein.“ Holger hatte mit zwei Freunden 250 „Superspace“- Kekse gebacken und verkaufte sie für sieben Mark das Stück. Selber kiffen würde er nicht. Dafür alle anderen. Jörg aus Rostock sagte, er träume nicht mehr, seitdem er soviel Hasch rauchen würde.
Auf dem Wagen einer Budapester Diskothek tanzte eine Frau halb nackt. Sie war am ganzen Körper bleich geschminkt, was darauf hindeutete, daß ihre Nacktheit möglicherweise was Existenzialistisches bedeuten sollte, zumal sich der Wagen mit allerlei Performances und Harlekinen auch sehr anspruchsvoll gab. Die „Titten raus“- Parole von DJ Hooligan wurde in der Regel eher nicht befolgt. Oft gaben sich die DJs wie Rockstars: „Seid ihr gut drauf?“, „Make some noise!“, „Move your body“ und so weiter. Seltsam war, daß sich die Musik im Getümmel eher ländlich verlor und nur die Vöglein erschreckte und von den Trillerpfeifen überdeckt wurde, wenn man nicht unmittelbar neben einem der 40 Wagen herumtanzte – was hohe Konzentration oder tiefe Trancezustände erforderte.
Im Fernsehen danach war dann wieder alles in Ordnung: sattester Technosound zu stundenlangen MTV-like geschnittenen Bildern auf x Kanälen. Wo sonst auf der Welt gäbe es soviel „Buntheit in Ballung“, sagte Love-Parade Pressesprecher Peter Lützenkirchen und daß es auf die genauen Zahlen nicht ankäme. Dr. Motte sagte am Ende, „daß wir uns alle liebhaben wollen, damit unsere Zukunft auch schön werden kann“.
Zurück blieb ein Schlachtfeld von Getränkedosen und Flaschen. Schon in der Nacht zu Sonntag begannen zwei Firmen mit 69 Kehrwagen und Schneepflügen mit den Aufräumarbeiten; 180 Tonnen Müll hat die Love Parade 97 hinterlassen. Die in Mitleidenschaft gezogenen Grünflächen des Tiergartens mußten von Hand gereinigt werden. Daran wollte sich gestern morgen auch Dr. Motte beteiligen. Detlef Kuhlbrodt, Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen