Die Freiheit auf dem Gipfel

Marco Pantani siegt in L'Alpe d'Huez, Richard Virenque in Courchevel, aber Jan Ullrich dominiert die 84. Tour de France auch in den Alpen  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Egal, von welchen Mißgeschicken Marco Pantani tagtäglich heimgesucht wird, wenn es hinauf nach L'Alpe d'Huez geht, ist der Italiener hundertprozentig auf dem Posten. Auch am Samstag konnte den 27jährigen auf den 21 steilen Kehren zum 1.860 Meter hoch gelegenen Wintersportort in den Alpen niemand aufhalten, und er gewann zum zweitenmal nach 1995 den giftigsten und gemeinsten Anstieg, den die Tour de France zu bieten hat. Gestern zahlte er den Preis für diesen übermächtigen Gewaltakt und verlor auf der 14. Etappe nach Courchevel drei Minuten auf den Tagessieger Richard Virenque und den zeitgleichen Spitzenreiter Jan Ullrich.

Als L'Alpe d'Huez 1952 erstmals ins Programm der Frankreich- Rundfahrt aufgenommen wurde, glaubte kaum jemand, daß überhaupt ein Fahrer oben ankommen würde. Doch der zum Sadismus neigende Tour-Direktor Lévitan durfte sich bestätigt sehen, als Fausto Coppi im Eiltempo den Berg hinaufstampfte und bewies, daß Profi-Radfahrer durchaus in der Lage sind, per Pedaltritt Steigungen zu bewältigen, für die andere Leute eine Strickleiter benötigen. Fortan wurde die berüchtigte Etappe meist von niederländischen Profis gewonnen, so daß L'Alpe d'Huez den Namen „Berg der Holländer“ erhielt. Das änderte sich in den 90er Jahren, als, vierzig Jahre nach Coppi, wieder die Italiener siegten: zweimal Bugno, einmal Conti und jetzt zum zweitenmal Pantani. Lediglich der US-Amerikaner Andrew Hampsten konnte sich vor einigen Jahren dazwischenmogeln und stammelte im Ziel: „Es war phantastisch, aber auch furchterregend.“

Weil L'Alpe d'Huez im letzten Jahr ausfiel, erlebte am Samstag Jan Ullrich erstmals die entfesselten Menschenmassen, ihr infernalisches Gebrüll und die vollkommen verstopfte Straße, auf der sich erst kurz vor den heranrasenden Fahrern eine schmale Gasse öffnet. „Die Stimmung hat mich hochgetragen“, sagte beeindruckt der 23jährige Spitzenreiter der Tour, der seinen Vorsprung vor den Verfolgern Virenque, Riis und Olano vergrößern konnte. Dem davonziehenden Pantani vermochte aber selbst Ullrich nicht zu folgen und versuchte es klugerweise auch gar nicht. Statt dessen tat „der Fahrer mit dem Gesicht eines schlechtgelaunten Kindes“ (El Pais) genau das, was Induráin stets getan hatte: Er fuhr in seinem eigenen Rhythmus weiter. Das war schwierig genug: Erstmals bei dieser Tour sah man dem leicht erkälteten Telekom- Star die Anstrengung an. Bleich und schwer atmend wuchtete er sein Rad den 13,8 km langen und durchschnittlich 8,3 Prozent steilen Anstieg hinauf. „Heute war er am Limit“, beobachtete der italienische Exprofi Francesco Moser.

Für Marco Pantani war der schönste Augenblick jener, als nach Virenque auch der Mann im gelben Trikot zurückfiel. „Nicht, weil ich Ullrich abgehängt hatte“, stellte der Italiener klar, „sondern weil ein großer Kletterer allein zum Gipfel kommen muß.“ Im Ziel riß er die Arme in die Höhe und stieß ein triumphierendes Gebrüll aus. „Ich habe nichts gerufen, es war ein Schrei der Befreiung“, erläuterte er später. „Ich habe mich wie ein Sklave gefühlt, dem sein Besitzer die Freiheit schenkt.“

Wobei die Sklaverei des Mannes mit den vielen Spitznamen eher in seinem ungeheuren Pech besteht. „Elefantino“ nannten ihn die Kollegen zuerst, wegen seiner großen Ohren, dann, als er sich den Kopf nach Michael-Jordan-Manier scheren ließ, „Nosferatu“, und aktuell ist er, wegen seines Ohrrings, „der Pirat“. Am angemessensten wäre jedoch eindeutig „Unglücksrabe“.

Schon 1995 war seinen spektakulären Auftritten bei der Tour eine lange Verletzungspause nach Zusammenstoß mit einem Auto vorausgegangen. Noch ärger erwischte es ihn am 18. Oktober 1995, als er beim Rennen Mailand–Turin von einem Begleitfahrzeug angefahren wurde, sich einen komplizierten Beinbruch zuzog und mehrfach operiert werden mußte. Lange Zeit konnte er nicht gehen, und niemand glaubte, daß er je wieder Rennen fahren würde. Doch Pantani gab nicht auf. „Zuerst habe ich versucht, mich als Person wiederherzustellen, dann als Radfahrer.“

Kaum saß er nach einem Jahr Pause wieder im Sattel, brachte ihn beim Giro d'Italia eine radsportunkundige Katze zu Fall, so daß er verletzt aufgeben mußte, und auch in der ersten Tourwoche konnte man bei jedem Sturz sicher sein, daß irgendwie Pantani darin verwickelt war. Auf dem Weg nach L'Alpe d'Huez kam ihm lediglich ein vorwitziger, als Indianerhäuptling verkleideter Fan in die Quere, der aber glücklicherweise, im Gegensatz zur Katze, so fett war, daß ihn Pantani rechtzeitig sehen und rüde wegschubsen konnte.

Am Ende hatte der Italiener 47 Sekunden Vorsprung vor Ullrich, der sich in L'Alpe d'Huez darüber freuen konnte, daß sein ärgster Verfolger Richard Virenque 40 Sekunden später kam als er selbst. Gestern versuchte der kleine Franzose erneut alles, um seinen Rückstand zur Spitze zu verringern. Er schaffte es sogar, sich allein abzusetzen, wurde aber vor dem letzten Anstieg von Ullrich und Bjarne Riis eingeholt. Den Dänen konnte Virenque erneut abschütteln, nicht aber Ullrich, der an seinem Hinterrad klebte, als er habe er ein unsichtbares Abschleppseil installiert. Zusammen kamen die beiden Kontrahenten auf die Zielgerade, wo der Träger des Gelben Trikots den Tagessieg generös dem Franzosen überließ. Vor der heutigen schweren Etappe nach Morzine hat Ullrich weiterhin 6:22 Minuten Vorsprung vor Virenque und sogar 11:06 Minuten vor dem drittplazierten Bjarne Riis.

Bitter verliefen die Alpen-Etappen des Wochenendes für Abraham Olano, der sowohl in L'Alpe d'Huez, als auch in Courchevel wertvolle Minuten einbüßte. Damit dürfte es der Spanier nicht nur schwer haben, das Podium in Paris, den angestrebten Platz unter den ersten drei, zu schaffen, sondern auch endgültig an der Aufgabe gescheitert sein, die Nachfolge Miguel Induráins anzutreten. Sein Banesto-Team hat jedenfalls Gerüchten zufolge schon einen neuen Induráin im Auge: Jan Ullrich.